TU intern - Dezember 1997 - Vermischtes
Der Traum vom großen Paar

Heines Europabild als deutsch-französischer Kulturtransfer

Heinrich Heine gehört in Frankreich zu den bekanntesten deutschen Dichtern. In diesem Jahr fand anläßlich seines 200. Geburtstags eine Ausstellung über den "deutschen Poeten aus Paris" statt
Unter den Schriftstellern des 19. Jahrhunderts gilt Heinrich Heine als die große Ausnahme eines politischen Kopfs und fortschrittlichen Europäers. Mit dieser Vorstellung räumt Renate Stauf in ihrer Habilitationsschrift "Der problematische Europäer" auf. Pünktlich zum 200. Geburtsjahr - Heine wurde am 13. Dezember 1797 geboren - erfährt der umstrittene Geist eine spannende Neubewertung.

Mit Heine verband man bisher die Vorstellung eines Europas ohne Nationen, die Schaffung einer europäischen Identität. Nicht so Renate Stauf, sie hat in ihrer am TU-Institut für Deutsche Philologie, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft entstandenen Habilitationsschrift ein anderes Bild entworfen. "Heines Europavision ist vielmehr eine deutsch-französische Liebesgeschichte, eine Art Traum vom großen Paar", erklärt sie. "Für Heine waren Deutschland und Frankreich die beiden auserwählten Länder der Humanität." Den restlichen Ländern habe er bei der Schaffung seiner Europaversion entweder eine Komparsenrolle zugewiesen oder sie gänzlich ausgeschlossen, wie etwa England.

Deutschland sollte Philosophie, Poesie, Geist und Wort einbringen, Frankreich Politik, gesellschaftliches Leben, Engagement und Tat. Auf diese Weise sollten die Schwächen des einen durch die Stärke des anderen aufgewogen werden: die Lethargie der Deutschen im Politischen durch die aus der Leichtlebigkeit erwachsene Handlungsbereitschaft der Franzosen, die Ziellosigkeit der Franzosen durch das historische Gedächtnis und die Reflexionskraft der Deutschen. Insofern wäre auch Heines Europa-Vorstellung nicht frei von bestimmten Bildern eines "Nationalcharakters" gewesen. Seine Europautopie sei eben nicht an Verfassungsfragen orientiert gewesen. "Niemals", so Renate Stauf, "hat Heine über eine zukünftige, wünschbare oder ideale Verfassung ernsthaft nachgedacht. Allen Staats- und Regierungsformen hat er stets nur eine sekundäre Bedeutung beigemessen und sich nicht selten widersprüchlich dazu geäußert".

Heine habe für eine europäische Gesellschaft gekämpft, die der "Idee des Lebens" den Vorrang einräumt. Auch Schönheit und Genuß wären für ihn Bestandteil der elementaren Lebensrechte gewesen. Heines revolutionäres Credo lautete: "Wir kämpfen nicht nur für die Menschenrechte des Volks, sondern für die Gottesrechte des Menschen. Hierin und noch in manchen anderen Dingen unterscheiden wir uns von den Männern der Revolution". Die Habilitationsschrift von Renate Stauf ist unter dem Titel "Der problematische Europäer. Heinrich Heine im Konflikt zwischen Nationenkritik und gesellschaftlicher Utopie." als Band 154 in der Reihe Beiträge zur neueren Literaturgeschichte im Universitätsverlag C. Winter, Heidelberg, erschienen.

cho


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