TU intern - Dezember 1997 - Menschen

Thomas Muhr


Mit weichen Daten präzise arbeiten

Die Kundschaft von Thomas Muhr besteht aus sehr unterschiedlichen Leuten. Da gibt es zum Beispiel die peruanische Nonne, die in einem Kloster in Lima Bibeltexte bearbeitet. Oder eine Gruppe von Wissenschaftlern in Tasmanien, die sich mit Managementthemen auseinandersetzen. Nicht zu vergessen: Rechtswissenschaftler an der Universität im englischen Sheffield und eine Regierungsbehörde in den Vereinigten Staaten. Eines verbindet die Mitglieder dieser weltweit verstreuten Gemeinde: Sie bearbeiten Texte. Und sie nehmen dabei ein Computerprogramm namens ATLAS/ti zu Hilfe, als dessen Vater man den ehemaligen TU-Wissenschaftler Thomas Muhr bezeichnen kann.

Das "ti" im Namen des Programms steht für "Textinterpretation". Aber Texte einlesen und dann eine fertige Interpretation ausgeben, war nie das Ziel des Programms: ATLAS/ti soll die Arbeit mit Texten (aber auch graphischem und Tonmaterial) "unterstützen". Beispielsweise Sozialwissenschaftler, die Interviews auswerten; bei der klassischen Interpretationsarbeit mit Papier, Stift und Schere geht ihnen schnell die öbersicht über Notizen, Anmerkungen und Verweise verloren. Mit Thomas Muhrs Software können sie Textstellen markieren, ordnen, kommentieren, zur besseren öbersicht miteinander verbinden und ganze "semantische Netzwerke" über den Daten aufziehen. Der Ursprung des weltweit eingesetzten Programms liegt in dem TU-Forschungsprojekt "Archiv für Technik, Lebenswelt und Alltagssprache" (ATLAS). Von 1988 bis 1992 arbeiteten hier Sozialwissenschaftler und Informatiker zusammen. Thomas Muhr, der an der TU Berlin zuvor ein Psychologie- und ein Informatikstudium abgeschlossen hatte, untersuchte, wie man die umfangreichen Interviews seiner sozialwissenschtlichen Kollegen mit Hilfe eines Computerprogramms unterstützen könnte. Dabei entwickelte er einen Prototypen für das ATLAS/ti-Programm.

Nach dem Projektende entwickelte Muhr den Prototypen weiter und machte als Ein-Mann-Firma ein marktfähiges Programm daraus. Schwierig war der Anfang, da es zwischen der TU Berlin und ihm ein langwieriges Hin und Her über die Rechte an der ATLAS/ti gab. "Eine von vornherein eindeutige Regelung darüber, wer welche Rechte an der Weiterentwicklung hat, hätte damals viel Zeit und Arbeit gespart", blickt Muhr zurück. Heute ist das Problem geklärt: Die Rechte für die 1996 fertiggestellte Windows-Version liegen bei ihm. Mehr als tausend Nutzer weltweit arbeiten mit ATLAS/ti, "hauptsächlich an Hochschulen und Forschungseinrichtungen", so Muhr.

Daß der ehemalige wissenschaftliche Mitarbeiter heute ein selbständiger Unternehmer ist, verdankt er auch dem ATLAS-Projekt. "Hätte ich damals nicht bei ATLAS gearbeitet, würde ich heute vielleicht als Angestellter in einem Softwareunternehmen arbeiten", spekuliert Muhr. Statt dessen ist er Schöpfer eines Programms geworden, das weltweit fast konkurrenzlos ist. Und Thomas Muhr ist's zufrieden: "auch wenn ich eine 70-Stunden-Woche habe und das Leben jenseits von Bildschirm und Schreibtisch sträflich vernachlässige".

Nach den ersten fünf Jahren harter Entwicklungsarbeit, geht das Projekt ATLAS/ti nun in eine neue Phase: Seit kurzem hat ein englisch-amerikanischer Verlag den Vertrieb des Programms übernommen. Der Markt ist enorm, so Muhr, denn das Programm spricht nicht nur Geistes- und Sozialwissenschaftler an, sondern auch Marktforschungsinstitute, Mediziner, Meteorologen, Architekten, Stadtplaner. "Kurzum: alle, die mit weichen Daten präzise arbeiten müssen".

Demnächst wird Muhr seinen Arbeitsplatz aus seiner Wohnung in angemietete Büroräume verlegen und dann zwei Mitarbeiter einstellen. Dann, so die Hoffnung, wird er vielleicht etwas Zeit haben, um sich etwa wieder seiner Dissertation zu widmen, die er bei dem früheren ATLAS-Projektleiter und TU-Psychologieprofessor Heiner Legewie schreiben will.

rs


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