TU intern - November 1997 - Studium
Sozialisation in Polen5. deutsch-polnischer Workshop mit Studierenden der Erziehungswissenschaft in Szczecin | ||
Mit neun Universitäten ist Szczecin eine der großen Universitätsstädte in Polen. Zehn Prozent der rund 400000 Einwohner sind Studierende | ||
Seit 1991 finden regelmäßig Begegnungen zwischen dem TU-Fachbereich 2 Erziehungs- und Unterrichtswissenschaften und dem Pädagogischen Institut der Universität Szczecin statt. Hintergrund der Treffen ist ein Partnerschaftsvertrag, in dessen Rahmen Studierende, Professoren und Professorinnen aus Berlin und Szczecin zusammenkommen. Im Juni diesen Jahres führten Professorin Helga Marburger und Professor Norbert H. Weber vom TU-Institut für Erziehungswissenschaften den 5. studentischen Workshop in Szczecin durch. Neun Studierende der TU Berlin nahmen daran teil und verbrachten eine Woche in Polen. Eindrücke von der Studienreise gibt der folgende Bericht von Ute Jochinke und Andr‚ Morawski, die als Studierende dabei waren. Der diesjährige Workshop stand unter dem Thema "Sozialisation" in Polen. Natürlich waren wir uns im klaren, daß die Thematik in ihrer Vielfalt in einer Woche nicht erschöpfend behandelt werden konnte. Deshalb suchten wir uns, unseren Interessen entsprechend, Themenschwerpunkte heraus, die wir vor Ort in drei paritätischen deutsch-polnischen Arbeitsgruppen diskutierten und bearbeiteten. Ziel der Arbeit in den Gruppen sollte es sein, mit Hilfe einer Videokamera die Ergebnisse der Gruppenarbeit zu dokumentieren. Wir beschäftigten uns einerseits mit dem Lehrbetrieb an der polnischen Universität, andererseits interessierten uns natürlich auch die Wohn- und Lebensverhältnisse, die Interessen und das Freizeitverhalten der polnischen Studierenden. FEHLENDER WOHNRAUM Neben Warszawa, Krakow und Wroclaw ist Szczecin mit neun Universitäten eine der großen Universitätsstädte Polens. Szczecin hat ungefähr 400000 Einwohner, davon sind zehn Prozent Studierende. Die Stadt leidet, wie andere polnische Städte auch, an Wohnraummangel, was natürlich Auswirkungen auf die Lebensqualität der Studierenden hat. Im Gegensatz zu Berlin wohnen sie sehr beengt. Studierende aus Szczecin und dem weiten Umland wohnen oft noch bei den Eltern - auch verheiratete Paare mit Kindern -, da die wenigen Studentenwohnheimplätze ausschließlich den besonders begabten sowie den sozial schwachen auswärtigen Studierenden vorbehalten sind. Wir hatten die Gelegenheit, zwei Szczeciner Wohnheime zu besuchen. Überrascht waren wir von dem elfgeschossigen, neuerbauten Gebäude in der Nähe des Stadtzentrums. Es orientiert sich an internationalen Wohnheim-Standards und ist nach Auskunft der dort wohnenden Studierenden ausschließlich den "Begabten" vorbehalten. Im Erdgeschoß befinden sich soziale Einrichtungen, wie öffentliche Telefone, Läden, ein Friseur, Ärzte sowie ein Studentenklub. Die 45 Quadratmeter großen Wohneinheiten für jeweils vier Personen gleichen kleinen Zweizimmerwohnungen mit einer Küche, Dusche und Toilette. Die zwei Zimmer funktionieren als Wohn-, Schlaf- und Arbeitsräume für je zwei Personen. SOZIALE KONTAKTE Ein abendlicher Besuch vermittelte uns den Eindruck, daß die dort wohnenden Studierenden mit ihrer Wohnsituation zufrieden sind, wozu sicherlich auch die sozialen Kontakte unter den Bewohnern und Bewohnerinnen beitragen. Im Gegensatz hierzu erschien uns das ältere Wohnheim, das ausschließlich Studierenden aus sozial schwachen Familien vorbehalten war, vergleichsweise einfach ausgestattet. Die Zimmer sind nicht zu Wohneinheiten zusammengefaßt, sondern gehen kasernenartig als Mehr-Personen-Zimmer von langen Fluren ab. Auf den Fluren befinden sich Sammelduschen und -toiletten sowie Gemeinschaftsküchen. Von den Studierenden erfuhren wir, daß die von uns ohnehin schon als beengt empfundenen Wohnräume für zwei Personen, oftmals von bis zu 13 Personen "schwarz" bewohnt werden. Dennoch hatten wir das Gefühl, daß die Studierenden mit ihrer Situation zufrieden sind, da die Möglichkeit überhaupt einen Wohnheimplatz zu bekommen, zugleich auch einen Schritt in die Selbständigkeit bedeutet. Aus weiteren Gesprächen erfuhren wir, daß ein Großteil der Studierenden in "illegalen", sehr teuren Wohngemeinschaften lebt. "Illegal" insofern, als das Zusammenleben außerhalb der Familie in Polen nicht toleriert, während Wohnungsinhaber den Wunsch der Studierenden nach Unabhängigkeit aber kräftig ausnutzen. Das Studium an der Universität empfanden wir im Gegensatz zu dem an der TU als verschult, stark hierarchisch strukturiert und reglementiert. Unsere Beobachtungen bestätigten sich später in Gesprächen mit den Studentinnen und Studenten. Insgesamt läßt das Studium wenig Freiräume zu, weder inhaltlich noch studienplanerisch. Vorlesungen, Seminare und Prüfungen unterliegen vorgeschriebenen Abläufen. Eine von uns besuchte Vorlesung stellte sich als im wahrsten Sinne des Wortes Vor-Lesung dar, bei der die Studierenden wörtlich mitschrieben. Der Seminarbetrieb fand bei den von uns besuchten Veranstaltungen ausschließlich in Form des Frontalunterrichts statt. Da unser Besuch mit dem Semesterende zusammenfiel, hatten wir die Möglichkeit, feierliche Testatvergaben und Prüfungssituationen mitzuerleben. Überrascht waren wir vor allem über die einheitliche Kleiderordnung während der Prüfungen - auf den Gängen dominierten weiße Blusen und kurze schwarze Röcke. RUDIMENTÄRE AUSSTATTUNG Die Ausstattung der Universität empfanden wir - immer den Vergleich zur TU Berlin im Hinterkopf - als rudimentär. Das äußerte sich vor allem im Bücher- und Zeitschriftenbestand der Bibliothek, aber auch bei technischen Geräten, wie z. B. Kopierern oder Computern. Nur durch das private Engagement einiger Dozenten und Dozentinnen war es möglich, durch Drittmittelfinanzierung einen PC-Pool einzurichten - der von den Studierenden stark frequentiert wurde - und einen Internet-Anschluß zu bekommen. Seit einigen Wochen hat das Pädagogische Institut der Universität Szczecin eine Homepage (http://www.univ.szczecin.pl/ipedag.html ). Zur Finanzierung solcher Anschaffungen werden kostenpflichtige Wochenendstudiengänge für FernstudentInnen, Einnahmen aus dem Internatsbetrieb und Spenden herangezogen. Neben diesen Eindrücken von den schwierigen Lebens- und Studienbedingungen der Szczeciner Studierenden erlebten wir aber auch den sozialen Zusammenhalt, die wechselseitige Hilfsbereitschaft untereinander und das fast schon familiär anmutende Verhältnis von Studierenden, Dozenten und Dozentinnen. Diese Umstände, aber auch die von uns oben beschriebene Art des Studiums, führen wahrscheinlich zu schnelleren Abschlüssen und weniger Studienabbrüchen. Das nächste Treffen erfolgt vom 2. bis 6. Dezember 1997, zu dem die polnischen Teilnehmer und Teilnehmerinnen des Workshops nach Berlin eingeladen sind. Ute Jochinke, Andr‚ Morawski
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