TU intern - November 1997 - Aktuelles
Freiheit für das Bildungssystem! Roman Herzog: Öffentlicher Diskurs über Bildungsinhalte ist nötig | |
Auf Einladung der drei Berliner Universitätspräsidenten sprach Bundespräsident Roman Herzog am 5. November auf dem Berliner Bildungsgipfel |
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Bildung muß in unserem Land zum "Megathema" werden - Das forderte Bundespräsident Roman Herzog auf dem Bildungsforum der Berliner Universitäten, das am 5. November im Schauspielhaus am Gendarmenmarkt stattfand. Es gehe darum, "Tabus zu knacken, Irrwege abzubrechen und falsche Mythen zu beseitigen". Ein neuer Grundkonsens über unsere Bildungsziele sei erforderlich, sagte der Bundespräsident. Er rief dazu auf, den öffentlichen Diskurs über die Bildungsinhalte zu führen, die für das 21. Jahrhundert entscheidend sein werden. SECHS FORDERUNGEN Konkret umschrieb der Bundespräsident sechs Eigenschaften als Forderungen an ein künftiges Bildungssystem. Herzog forderte zunächst ein Bildungssystem, das "wertorientiert" ist. Es gehe nicht nur um die Vermittlung von Wissen und funktionalen Fähigkeiten, sondern auch um Persönlichkeitsbildung. Dazu gehöre die Vermittlung von so altmodisch klingenden Tugenden wie Verläßlichkeit, Pünktlichkeit und Disziplin, vor allem aber auch der Respekt vor dem Nächsten und die Fähigkeit zur menschlichen Zuwendung. Er rief dazu auf, "erzieherische Werte wieder offensiver in den Unterricht einzubauen" . Für eine "neue Kultur der Selbständigkeit und Verantwortung" forderte er das gelebte Beispiel von Eltern, Lehrern und Erziehern ein. Darüber hinaus müsse das Bildungssystem "praxisbezogen" im Sinne von "lebensbezogen" sein - so die zweite Forderung des Bundespräsidenten. Dies verdeutlichte er im Hinblick auf eine Vielfalt von Problemen: Konzentration der Schulfächer auf das Wesentliche, Vermittlung eines Wissens über die wirtschaftlichen Zusammenhänge sowie von Grundfähigkeiten im Umgang mit dem Computer bereits in der Schule, neue Formen projektorientierten und interdisziplinären Lernens, Berufsfeldorientierung in der beruflichen Ausbildung und an den Hochschulen. In diesem Zusammenhang formulierte er die Befürchtung, daß das duale Ausbildungssystem in Deutschland ein Auslaufmodell werden könne. An die Hochschulen richtete er die Forderung, sich stärker um das berufliche Schicksal ihrer Absolventen zu kümmern und verwies auf die Praxis der "Career-Centers" an amerikanischen Universitäten. Das Bildungssystem müsse "international" sein, war die dritte Forderung. Dies bezog der Bundespräsident ausdrücklich nicht nur auf neue international anerkannte Abschlüsse. Es gehe darum, daß sich unsere Bildungsstätten insgesamt mehr als bisher der Welt öffnen, "kosmopolitischer" werden. Bilingualer Unterricht in den Schulen, Verwendung des Englischen als Lingua franca der Wissenschaften an den Hochschulen nannte er als Beispiele für Maßnahmen zur notwendigen internationalen ™ffnung des deutschen Bildungssystems. Aber es gehe ganz allgemein um die Bereitschaft, von internationalen Erfahrungen zu lernen. Das gelte insbesondere bezüglich der Stichworte "Service" und "Kundenorientierung", die auf dem deutschen Campus immer noch Fremdwörter seien. VIELGESTALTIGE HOCHSCHULEN Der Bundespräsident wünschte sich - viertens - ein Bildungssystem, das "vielgestaltig" ist. Das gelte für die Schulen, ziele aber in besonderer Weise auf die Hochschulen. Herzog kritisierte in diesem Zusammenhang die bestehende Benachteiligung der Fachhochschulabsolventen bei der Entlohnung. Er forderte, Berührungsängste abzubauen und die Durchlässigkeit zwischen Universitäten und Fachhochschulen zu erhöhen. Auf Seiten der Universitäten stellte er die undifferenzierte wissenschaftliche Orientierung der Studiengänge in Frage. Er plädierte für eine modulare Studienorganisation mit studienbegleitenden Prüfungen und für einen Aufbau der Studiengänge, in denen die tiefergehende wissenschaftliche Spezialisierung nur für diejenigen Studierende vorgesehen ist, die in die Wissenschaft gehen wollen. Ebenfalls sprach er sich für eine Entlastung von "Stoff"-Massen zu Gunsten einer "Lehre des Lernens". Er ermunterte zu Experimenten auf all diesen Feldern. Die fünfte Forderung bezog sich auf ein Bildungssystem, das "Wettbewerb" zuläßt. "Die Qualitätsunterschiede im Bildungssystem endlich wieder transparent zu machen und dafür zu sorgen, daß gute Leistung belohnt und schlechte durch die Entziehung von Ressourcen sanktioniert wird", stand im Mittelpunkt seiner Forderung. Aus ihr folgten das Bekenntnis zum Ranking von Hochschulen, aber auch bereits von Schulen - etwa nach dem Beispiel des von Präsident Clinton in Amerika gerade eingeführten "national achievement test". Außerdem Fragen wie: Warum müssen die Professoren Beamte sein? Warum muß die Verwaltung der Bildungseinrichtungen in das Korsett kameralistischer Haushaltsführung eingezwängt werden? Die Universitäten müßten zudem die Möglichkeit zur Auswahl ihrer Studierenden haben. Als ein Gebot der Orientierung auf Wettbewerb begründete der Bundespräsident auch seine Forderung an die Gesetzgeber im Bund und in den Ländern, davon Abstand zu nehmen, unbedingt eine "Einheitlichkeit der Bildungsverhältnisse" herstellen zu wollen. "Wagen wir möglichst viele Experimente, über deren Qualität dann die Praxis entscheiden muß!" Als sechste Forderung und als Quintessenz vieler Einzelforderungen formulierte der Bundespräsident schließlich den Wunsch nach einem Bildungssystem, "das mit der Ressource Zeit vernünftig umgeht". Er kritisierte die vielen sinnlosen Warteschleifen, die in die einzelnen Bildungsgänge und in ihrem Verhältnis zueinander eingebaut sind. Es gehe darum, Zeit zu schaffen. Denn: "Zeit ist das wichtigste, was der Mensch zum Reifen, Lernen, Forschen und Umsetzen der Forschungsergebnisse braucht. Sie ist die Ressource, die alles entscheidet." Der Bundespräsident faßte seine Forderungen dann in den Schlußworten zusammen: "Schaffen wir ein Bildungssystem, das Leistung fördert, keinen ausschließt, Freude am Lernen vermittelt und selbst als lernendes System kreativ und entwicklungsfähig ist. Setzen wir neue Kräfte frei, indem wir bürokratische Fesseln sprengen. Entlassen wir unser Bildungssystem in die Freiheit." Karl Schwarz © 11/'97 TU-Pressestelle [ ] |