WISSENSCHAFT

"Suchen, suchen, suchen"

Das Zentrum für Antisemitismusforschung beleuchtet die "Rettung von Juden im nationalsozialistischen Deutschland"

Bis heute gibt es keine zusammenfassende Dokumentation, die Auskunft und Überblick über Solidarität und Hilfe für jüdische Verfolgte im Nationalsozialismus gibt. Eine Forschungsgruppe am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin will dies ändern und beleuchtet die "Rettung von Juden im nationalsozialistischen Deutschland".

Als am 30. November 1942 der Familie Foß aus der Pestalozzistraße die Deportation drohte, erwies sich die Bekanntschaft mit der kaufmännischen Angestellten Helene von Schell als Rettung. In ihrer kleinen Wohnung in der Moabiter Waldstraße bot sie dem Vater, der Mutter und zwei Söhnen bis zur Befreiung im April 1945 ein Versteck zum Überleben. Daran erinnert eine Gedenktafel, die sich seit März 1996 an dem Wohnhaus der 1956 verstorbenen Helferin befindet. Wenn auch spät, so wird an diesen Fall überhaupt erinnert, denn insgesamt sind nur wenige Beispiele bekannt und dokumentiert, in denen Nicht-Juden in irgendeiner Form Juden geholfen und dabei ihr eigenes Leben riskiert haben. Bis heute fehlt hier eine zusammenfassende Dokumentation, die Auskunft und Überblick über Solidarität und Hilfe für jüdische Verfolgte im Nationalsozialismus gibt.

Helene von Schell rettete die Familie Foß in ihrer Wohnung in der Moabiter Waldstraße

Die Familie Foß (v. r. n. l.): Hans, Harry, Margot und Werner Foß überlebten den Holocaust. Peter Foß (l.) emigrierte schon 1938 nach Palästina

Dies wird sich nun ändern, denn seit Anfang April gibt es am Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin eine Forschungsgruppe, die die "Rettung von Juden im nationalsozialistischen Deutschland" untersucht. Das Projekt kam auf Initiative des Vereins "Gegen Vergessen - für Demokratie" zustande. Dr. Beate Kosmala, Dr. Marie-Luise Kreuter und Dr. Kurt Schilde, die in dem Projekt beschäftigt sind, haben vorerst zwei Jahre Zeit, alles zu sammeln, was mit Hilfsaktionen für Juden im nationalsozialistischen Deutschland zu tun hat. In dieser Zeit soll eine Datenbank aufgebaut werden, in der möglichst vollständig alle Rettungsbemühungen - geglückte und mißlungene! - in Deutschland in den Grenzen von 1937 während der Jahre 1933 und 1945 erfaßt werden. Finanziert wird diese erstmals überregional erfolgende Erfassung solcher Daten von der Stuttgarter Robert-Bosch-Stiftung und der Alfried-Krupp-von-Bohlen-und-Halbach Stiftung aus Essen.

DATENBANK FÜR DIE RETTER

In einer Datenbank festegehalten werden sollen die Namen und persönlichen Daten der Retterinnen, Retter und der Geretteten sowie Art, Umfang, Dauer und Motivation der Hilfeleistung. Recherchiert werden soll auch, ob die Hilfe möglicherweise negative Folgen hatte oder ob eine nachträgliche öffentliche Anerkennung stattgefunden hat. Auch Informationen über Beruf, Konfession, Schulbildung und die politische Orientierung sind von Interesse. "Alles, was an Literatur vorhanden ist, soll ausgewertet werden" erklärt Beate Kosmala "es gibt einige wenige Regionalstudien, aber keine übergreifende Erfassung. Dies ist die Aufgabe des Projekts, alle relevanten Aktenbestände, die man sich überhaupt vorstellen kann, auszuwerten. Dazu gehören z. B. Akten der NS-Justiz, Gerichtsverfahren aus der Nachkriegszeit, Polizeiberichte, Akten von Entschädigungsämtern." Nicht nur Akten- und Archivstudium stehen auf dem Arbeitsprogramm, es werden auch alle jüdischen Gemeinden um Hilfe gebeten, ebenso die Staatsarchive und jede Menge einschlägiger Institutionen.

Natürlich werden auch bereits publizierte und aufgearbeitete Fälle aufgenommen. Nicht zuletzt hoffen die Wissenschaftler/innen, noch lebende Retterinnen, Retter, Gerettete und andere Zeitzeugen zu sprechen, um bislang nicht bekannte Hilfeleistungen für bedrohte Juden herauszufinden. Ein riesiges Unternehmen, betrachtet man die unzähligen Quellen, die bearbeitet werden müssen und dies nicht nur in den großen Städten, sondern auch auf dem Land.

"Die Datenlage ist sehr unterschiedlich, so sind in Berlin z. B. ein Großteil der Namen schon bekannt. Es gibt 700 Leute, die uneigennützig Jüdinnen und Juden gerettet, d. h. versteckt oder mit Essen versorgt haben und die dafür nachträglich geehrt wurden. Insgesamt liegen jedoch 1500 Anträge für nachträgliche Ehrungen von Angehörigen oder Überlebenden vor, nun stellt sich die Frage, wie man an Informationen über die verbleibenden 800 Personen herankommt" beschreibt Kurt Schilde die Situation für Berlin und rechnet dabei mit einem weiteren Problem - dem Datenschutz: "Viele wollen auch einfach nicht, daß ihre Namen genannt werden".

Marie-Luise Kreuter hat damit begonnen, verschiedene regionale Studien, die sich nicht direkt mit diesem Thema beschäftigen, zu untersuchen. "In diesen Studien sind diejenigen Fälle, die erwähnt werden, häufig so wenig recherchiert, daß oft nur ein Name vorliegt oder ein wenig über den Tatbestand und dann geht die Sucharbeit los", so beschreibt sie das Problem mit dem sie dabei zu tun hat und faßt ihre und auch die Arbeit der anderen für die nächsten beiden Jahre treffend zusammen: "Suchen, suchen, suchen und sammeln, sammeln, sammeln." Es soll möglichst jeder Spur, jedem Namen nachgegangen werden. Daß dies auch ab und an erfolglos enden wird - damit rechnen die drei Wissenschaftler. "Das große Fragezeichen besteht darin, wie oft wir vielleicht vergeblich suchen" sagt Marie-Luise Kreuter.

NAMEN UND GESCHICHTEN

Da die Datenlage sehr unterschiedlich ist, kann in manchen Fällen wahrscheinlich nur der Name, in anderen, günstigeren Fällen eine ganze Geschichte ausfindig gemacht werden. Wieviel Namen und Geschichten dabei zusammenkommen werden? Auf diese Frage kann es noch keine zuverlässige Antwort geben. Der Grund dafür liegt auch darin, daß an einem Rettungsfall meistens mehr als eine Person involviert war: Mitwissende, Familienangehörige oder ein Arzt, der eine Untersuchung durchgeführt hat. Viele der Untergetauchten waren darüber hinaus nicht die ganze Zeit an einem Ort, sondern mußten häufiger den Unterschlupf wechseln. Ein weiterer Aspekt, der eine Antwort erschwert, ist die Frage danach, wo eigentlich Hilfe anfängt - hier gibt die Projektbeschreibung gewisse Vorgaben, denn nur jene Hilfeleistungen sollen berücksichtigt werden, die Leib und Leben der Unterstützer gefährden konnten. Auch bei der Personengruppe sollen Schwerpunkte gesetzt werden: im Mittelpunkt stehen diejenigen, die nicht Juden waren und jüdischen Menschen geholfen haben.

Kurt Schilde, Beate Kosmala und Marie-Luise Kreuter betonen, daß es zunächst nur um das Sammeln von Daten geht. "Wir können noch keine historischen Analysen anstellen oder gar eine Sozialgeschichte des solidarischen Verhaltens nach zwei Jahren Projektarbeit fertig haben" betont Kurt Schilde, dies könne in einem späteren Schritt, in einem Folgeprojekt, gemacht werden. Ziel des Projektes ist es jedoch, noch Personen zu ehren, die damals geholfen haben und bisher nicht geehrt wurden.

Hilfe bei der Informationssuche versprechen sich die Forscher übrigens auch bei den Medien, die über das Projekt informiert werden sollen. An möglichst vielen Stellen soll über das Projekt berichtet und die Bevölkerung um Mithilfe gebeten werden. Jeder, der Hinweise liefern kann, wird gebeten, sich mit den Projektteilnehmern in Verbindung zu setzen.

Bettina Weniger

Informationen zum Projekt gibt es beim Zentrum für Antisemitismusforschung, Tel.: 314-2 54 67/ -2 40 86


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