TU intern - April 1998 - Aktuelles

Schritt zurück nach vorn?

”Nicht um die Abschaffung der Koedukation geht es,
sondern um die geschlechtsbezogene Förderung von
Mädchen und Jungen. "

Christine Holzkamp
Die - zumindest zeitweise - Trennung von Mädchen und Jungen in der Schule ist wieder aktuell. Nordrhein-Westfalen plant Schulversuche zum getrennten Unterricht ab der Sekundarstufe eins. In Niedersachsen werden bereits Grundschüler versuchsweise getrennt unterrichtet und auch in Berlin soll ab April die zeitlich unbefristete Aufteilung von Klassen in verschiedenen Fächern möglich sein. WissenschaftlerInnen und Frauenbeauftragte befürworten diese Maßnahme. In der Öffentlichkeit ist der getrennte Unterricht jedoch sehr umstritten. Nach einer Forsa Umfrage sollen 69% der Deutschen das Festhalten an der Koedukation befürworten. Auch aus der Industrie kommen eher skeptische Stimmen, und in den Medien wurde der getrennte Unterricht sogar schon als "Vorstoß in die Adenauerära" bezeichnet.

TU intern sprach mit Christine Holzkamp, Professorin vom Institut für Sozialwissenschaft in Erziehung und Ausbildung der TU und Mitbegründerin der Arbeitsstelle "Sozial- Kultur- und erziehungswissenschaftliche Frauenforschung im FB 2 der TU" über Sinn und Unsinn des geschlechtsspezifischen Unterrichts.

Frau Holzkamp, die Trennung von Mädchen und Jungen im Unterricht ist wieder im Gespräch. Gibt es gute, wissenschaftlich untermauerte Gründe, die Koedukation, wenigstens zeitweise, abzuschaffen?

Nicht um die Abschaffung der Koedukation geht es in der bildungspolitischen Diskussion , sondern um die "reflexive Koedukation", d.h. die geschlechtsbezogene Förderung von Mädchen und Jungen. Im Mittelpunkt steht dabei der Abbau von Geschlechtsstereotypen und die Entwicklung der Leistungspotentiale von Mädchen und Jungen. Eine zeitweilige Trennung im Unterricht ist dabei - das zeigen die vorliegenden Erfahrungen und empirischen Untersuchungen - hilfreich und notwendig. In der Mädchen- bzw. Jungengruppe sind Reflexions- und Veränderungsprozesse möglich, die sich in der gemischten Gruppe - wegen des hierarchischen Geschlechterverhältnisses und den unterschiedlichen Selbstbildern von Mädchen und Jungen - nur schwer herstellen lassen. Ein Beispiel: Mädchen können ohne die Anwesenheit von Jungen eher Vertrauen in ihre technischen Fähigkeiten entwickeln und Jungen ohne die Mädchen leichter über eigene Ängste sprechen.

Verschiebt man mit dem getrennten Unterricht nicht einfach das Problem auf einen anderen Zeitpunkt; wenn Mädchen oder Frauen sich später - im Beruf oder an der Uni - doch wieder den gleichen Anforderungen wie ihre männlichen Kollegen stellen müssen?

Nein. Die zeitweilige Trennung als Teil reflexiver Koedukation soll Mädchen u.a. in ihrem Selbstvertrauen und in ihrer Durchsetzungsfähigkeit stärken. Das sind gute Voraussetzungen für Beruf und Uni, besonders in Arbeitsfeldern, die bis jetzt noch Männerdomänen sind, wie Naturwissenschaft und Technik. Und wahrscheinlich gäbe es - bei zunehmender Realisierung reflexiver Koedukation - mehr männliche Kollegen, die auf Frauenabwertung verzichten und Frauen als kompetente gleichwertige Partnerinnen in Ausbildung und Beruf begreifen können.

Umstritten ist auch der Zeitpunkt der Trennung. Während die einen damit bereits in der Grundschule anfangen wollen, halten andere dies erst ab Sekundarstufe eins für angebracht. Was sind die Argumente, was ist Ihre Meinung?

Für die Auseinandersetzung mit der eigenen Geschlechterrolle ist es sinnvoll, möglichst früh Mädchen und Jungen auch getrennt zu unterrichten. Bei jungen Kindern ist das geschlechtsspezifische Verhalten häufig noch nicht so verfestigt. In der Anne-Frank-Grundschule in Berlin Tiergarten wird jetzt ein dreijähriges Projekt durchgeführt, innerhalb dessen Mädchen und Jungen von der 4. bis 6. Klasse eine Schulstunde pro Woche getrennten Unterricht haben. Es geht in dieser Mädchen- bzw. Jungenstunde darum, die Selbstwahrnehmung zu fördern und das Selbstwertgefühl zu stärken, sprachliche Handlungskompetenz und kooperative Fähigkeiten zu entwickeln. Das bedeutet jedoch für Jungen und Mädchen Unterschiedliches. Ein Beispiel: Mädchen lernen Grenzen zu setzen; Jungen lernen anders auf das Setzen von Grenzen zu reagieren.

Getrennter Unterricht wird - besonders bei den Naturwissenschaften - als "Fördermaßnahme" für Mädchen dargestellt, gibt es auch Bereiche, in denen die Jungen Defizite haben?

Ja. Das Sozialverhalten der Jungen. Die männliche Sozialisation bringt in ihrer Betonung von Dominanz, Stärke, Leistung, Erfolg für viele Jungen Probleme mit sich. Auch für die Gesellschaft. Gewalttätige Jugendliche sind zu 90% Jungen. Gleichzeitig wird es Jungen schwer gemacht, soziale Kompetenzen, wie Fürsorge für andere, Dialogfähigkeit, Einfühlungsvermögen....zu entwickeln. Ein Problem: Es gibt kaum männliche Lehrer, die solche Jungenarbeit in der Schule machen.

Was sagen eigentlich die Betroffenen, die Schüler, dazu?

Wenn Schülerinnen und Schüler mit zeitweilig getrenntem Unterricht schon Erfahrung haben, finden sie die Arbeit nur in der Mädchen- bzw. Jungengruppe überwiegend gut - die Mädchen etwas mehr als die Jungen.


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