TU intern - Februar 1998 - Studium

Wissen allein genügt nicht

Ingenieurausbildung aus der Sicht der Bahnindustrie

Das Wissen, das Ingenieure und Ingenieurinnen an der Hochschule aufnehmen, muß später in der Praxis umgesetzt werden. Rudolf Wagner beschreibt aus der Sicht der Bahnindustrie vier Bereiche, in denen der Umsetzungsprozeß besonders wichtig ist und schon während des Studiums trainiert werden sollte. Seine Vorschläge sind ohne Probleme auf andere Ingenieurwissenschaften übertragbar
Auch in dieser TU-intern-Ausgabe stellen wir unseren Lesern und Leserinnen wieder einen Beitrag vor, der sich mit der Hochschulausbildung in den Ingenieurwissenschaften auseinandersetzt. Autor ist Prof. Dr.-Ing. Rudolf Wagner, Abteilungsdirektor beim Bereich Verkehrstechnik der Siemens AG in Erlangen. Der Text ist eine gekürzte Fassung seines Vortrags ”Ingenieurausbildung aus der Sicht der Bahnindustrie“, den er im November an der TU Berlin hielt. Ausgangspunkt seiner Überlegungen sind die Veränderungen in der Bahnindustrie und deren Auswirkungen für die Ingenieurstätigkeit. Rudolf Wagner leitet daraus vier Forderungen an die Hochschulausbildung ab, die auch auf andere Ingenieurwissenschaften übertragen werden können, um dort als Anregung zur Diskussion zu dienen.

Es ist bekannt, daß die Ingenieurausbildung an den deutschen Hochschulen und Unversitäten ein hohes Niveau hat. Die Anforderungen im Grundstudium sind sehr hoch, um die Prüfungen in den naturwissenschaftlichen Grundlagenfächern zu bestehen. Im Hauptstudium wird den Studenten eine Vielzahl von Vorlesungen, Übungen und Praktika angeboten, aus denen sie für ihre gewünschte Spezialisierung das Geeignete auswählen können. Vollgeladen mit Wissen kommen dann die jungen Ingenieure in die Industrie, zu den Bahn- oder Verkehrsbetrieben. Wissen allein genügt aber nicht, sondern es kommt darauf an, dieses Wissen in die Denkprozesse zur Erarbeitung neuer Lösungen sei es in der Forschung und Entwicklung, im Systemengineering, in der Planung von Großanlagen, ja sogar bis in den Vertrieb möglichst effektiv einzubringen. Hier wünschen wir uns, daß in Zukunft vor allem Denkprozesse in den vier folgenden Richtungen trainiert werden, und wir glauben, daß dieser Wunsch auch Einfluß auf die Studienplätze mit ihren einzelnen Vorlesungen und vor allem den Übungen und Praktika haben müßte.

TECHNISCH-PHYSIKALISCHES DENKEN

Da wäre zunächst einmal das technisch-physikalische Denken. Mathematik, Physik, technische Mechanik, Grundlagen der Elektrotechnik, Konstruktionslehre und Maschinenelemente sind die Grundlagen des Ingenieurberufes. In den letzten Jahren haben wir immer wieder feststellen müssen, daß die jungen Leute Schwierigkeiten haben, dieses Grundlagenwissen ingenieursmäßig einzusetzen. Einen negativen Einfluß in dieser Beziehung hat meiner Meinung nach der Computer. Unser Ingenieurnachwuchs ist, so möchte ich sagen, verliebt in die Computer und glaubt ihnen fast alles. Da werden z. B. ganz stolz Rechenergebnisse vorgestellt und wenn man dann fragt, Können Sie diese Ergebnisse erklären?, kommt häufig nur die Antwort, der Computer habe es berechnet. Das heißt, es fällt den jungen Leuten schwer oder sie wollen sich nicht die Mühe machen, das Ergebnis auf technisch-physikalische Plausiblität hin abzuklopfen. Mir werden auch häufig Rechenergebnisse mit vier bis fünf Stellen hinter dem Komma gezeigt und man meint, daß das etwas mit Genauigkeit zu tun hätte. Dabei sollte doch jeder Ingenieur wissen, daß die Rechnung nicht genauer sein kann, als die der eingegebenen Parameter. Unser Wunsch ist es also, daß in Übungen und Prüfungen viel mehr Wert darauf gelegt werden sollte, technisch-physikalische Zusammenhänge zu erklären sowie Fehler- und Toleranzbetrachtungen durchzuführen.

Nun zum zweiten Punkt, dem systemtechnischen Denken. Als Beispiel dafür möchte ich aus der Fahrzeugtechnik den gerade in der Entwicklung befindlichen neuen Hochgeschwindigkeitszug ICE3 für die Deutsche Bahn AG nennen, der auf Wunsch des Kunden aus einer Hand geliefert werden soll. Bei den hohen technischen Anforderungen wie Leistung, Geschwindigkeit, Gewicht, Geräuschemission, Komfort, Energieverbrauch, Sicherheit, Zuverlässigkeit usw. läßt sich ein solches System nicht mehr von einigen Spezialisten realisieren, sondern dazu werden Universalisten gebraucht, die die gegenseitigen Abhängigkeiten der einzelnen Maßnahmen zur Lösung der Teilprobleme beurteilen und daraus die richtigen Entscheidungen für die Weiterarbeit ableiten können.

INTERNATIONALE CHANCE

Hier kommt es darauf an, ein Optimum zu finden, wozu eben ein ausgesprochenes systemtechnisches Denken auf der Basis exzellenten technisch-physikalischen Grundlagenwissens notwendig ist. Um in dieser Richtung die Ausbildung zu verbessern, sollten die einzelnen Vorlesungen und Übungen ohne Rücksicht auf Fachgebiets-, Instituts- oder Fakultätsgrenzen besser aufeinander abgestimmt und vermehrt Vorlesungen und Übungen über die Integration und Vernetzung von Komponenten und Teilsystemen angeboten werden. Das gesamthafte und systemtechnische Denken ist gefragt. Ich sehe gerade in dieser neuen Ausrichtung auch eine Chance im internationalen Vergleich. Meine Erfahrung mit den überseeischen Konkurrenten zeigen mir, daß dort dieses systemtechnische Denken nicht so gefördert wird. Es wird mit Spezialisten gearbeitet, die sich häufig schwer tun, etwas zu einem Ganzen zusammenzuführen.

Als drittes möchte ich das industriemäßige Denken ansprechen. Hier sind meiner Meinung nach drei Aspekte wichtig:

Die Ingenieurarbeit muß darauf ausgerichtet sein, Komponenten, Systeme und Verfahren zu erarbeiten, die einen praktischen Nutzen haben, mit hoher Zuverlässigkeit arbeiten und einen sicheren und energiesparenden Betrieb gewährleisten. Es macht keinen Sinn, eine pfiffige Lösung zu haben, die aber in der Praxis z. B. aus Sicherheits- oder Zuverlässigkeitsgründen nicht einsetzbar ist. Schon während der Studienzeit sollte deshalb darauf geachtet werden, daß z. B. bei Versuchsaufbauten zu Diplom- oder Doktorarbeiten immer auch an eine industrielle Realisierbarkeit gedacht wird. Natürlich soll und darf damit der Forschergeist nicht unterdrückt werden, aber die Frage nach der technischen Machbarkeit muß immer wieder gestellt werden.

Alle Arbeiten müssen auch unter dem Gesichtspunkt der Kosten betrachtet werden. Gerade heute, wo die deutsche Industrie unter einem enormen Kostendruck steht, ist es notwendig, daß jeder Ingenieur sich bewußt ist, welchen Einfluß seine Arbeit auf die Gesamtkosten einer Komponente oder eines Systems hat. Schon in der Studentenzeit sollten die jungen Leute für die technisch wirtschaftlichen Zusammenhänge sensibilisiert werden. Jeder muß wissen, daß schon in der Entwicklungsphase der Grundstein für die Kostensituation eines Produktes gelegt wird.

Auch das Thema Projektmanagement sollte heute zur Ausbildung gehören. Wer sonst als die Ingenieure werden mit der Führung von Entwicklungs- und Lieferprojekten betraut. Durch die von der Bahnindustrie übernommene Systemverantwortung sind die Lieferprojekte größer geworden und erfordern moderne und effektive Methoden der Führung.

Um dieses industriemäßige Denken besser in die Lehre einzubringen, wäre es sicherlich richtig, vermehrt Fachleute aus der Industrie für Vorlesungen an den Hochschulen zu gewinnen. Außerdem hielte ich es für zweckmäßig, wenn hauptamtliche Professoren, sagen wir etwa alle 5 Jahre, wieder einmal für ein Jahr in die Industrie oder zu den Bahnen zurückgingen, um dort den technischen, wirtschaftlichen und organisatorischen Fortschritt aktiv kennenzulernen.

DIDAKTISCHES DENKEN

Jetzt zur vierten Denkrichtung, die ich das didaktische Denken genannt habe. Didaktik heißt Lehrkunst und wird heute als die Wissenschaft von Lehren und Lernen verstanden. Sollen nun die Ingenieure auch alle noch nebenbei zu Lehrern ausgebildet werden? Nein, natürlich nicht, aber die Fähigkeit, Wissen auf eine möglichst effektive Weise zu vermitteln, hat auch im Berufsleben eines Ingenieurs, vor allem in der Industrie eine große Bedeutung. Von Beginn an wird der Ingenieur immer wieder seine Ideen und Arbeitsergebnisse dokumentieren und verbreiten, ja sogar im weitesten Sinne des Wortes verkaufen müssen. Es gilt seine Kollegen und Vorgesetzten zu informieren und zu überzeugen. Diese Kommunikation geschieht über Aktennotizen, technische Berichte und kurze Vorträge. Da die meisten, die diese Informationen erhalten sollen, nicht so tief in der Materie drinstecken, wie derjenige, der das spezielle Thema erarbeitet hat, muß die Information so aufbereitet sein, daß diese mit normalem Grundlagenwissen verstanden wird. Heute sind viele Ingenieure nicht in der Lage, die technischen Informationen so aufzubereiten, daß sie diesen Ansprüchen genügen. Die Erklärungen sind zu kompliziert, unlogisch aufgebaut, die zur Darstellung notwendigen Diagramme und Bilder sind in sich nicht lesbar, usw. Diese Schwäche wird mit zunehmendem Berufsleben noch gravierender, wenn der Mitarbeiter in die Situation kommt, auch sein Wissen nach außen, also zum Kunden, weitergeben zu müssen. Hier kann eine gute Präsentation mit gut aufbereiteten Bildern und einem flüssigen und überzeugenden Vortrag oft entscheidend für den Erfolg eines Geschäftes sein.

Deshalb wünschen wir uns, daß schon während des Studiums auf dieses didaktische Denken großen Wert gelegt wird. Der Student sollte angehalten werden, Praktikumsberichte, Studien- und Diplomarbeiten so abzufassen, daß sie allgemein verständlich sind, eine logische Abfolge von der Aufgabenstellung bis hin zum Ergebnis aufzeigt und alle Bilder so gestaltet sind, daß sie in sich lesbar werden. Die Kolloquien von Studien- und Diplomarbeiten sollten in freier Rede abgehalten und der Vortrag als solcher auch mit einem großen Gewicht benotet werden.


Rudolf Wagner
Prof. Dr.-Ing. Rudolf Wagner, Jahrgang 1935, studierte Elektrotechnik an der TU Dresden und promovierte 1968 an der TU Braunschweig. 1961 begann er seine berufliche Laufbahn bei der Siemens AG in Erlangen, ab 1970 in der Bahnabteilung. Seit 1989 ist er Leiter Engineering + Entwicklung Bahnen im Unternehmensbereich Verkehrsstechnik. 1997 wurde Wagner Honorarprofessor an der Universität Erlangen für das Fachgebiet Elektrische Bahnen.


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