MENSCHEN

Ein Dichter als Wissenschaftler

Norbert Miller zum 75. Geburtstag von Walter Höllerer

Literat und
TU-Professor
Walter Höllerer

Am 19. Dezember 1997 feierte der bedeutende deutsche Literat und ehemalige TU-Professor Walter Höllerer seinen 75. Geburtstag. Die Glückwünsche und Zeitungsbeiträge über den Jubilar waren zahlreich. So strahlte der Bayerische Rundfunk eine Hörfunksendung aus, die dem Werdegang des Schriftstellers und Hochschullehrers gewidmet war. Autor der Sendung, aus der wir hier einige Auszüge vorstellen, war Norbert Miller, Professor für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft an der TU Berlin.

Als 1952 der Gedichtband: "Der andere Gast" zum ersten Mal erschien, war der Name des Autors gänzlich unbekannt. Aber die Kritiker und die Leser horchten auf: Unrast und Entsetzen dem Naturbild eingegraben, das Schweigen um die skeptische Beobachtung der Dinge gebreitet, Wind, Sand und Sterne als ungewisse Zeichen - der junge Walter Höllerer, der seit 1942 an diesen Gedichten wider die Gelegenheit geschrieben hatte, machte auf eigene, ungewöhnliche, aber als gültig empfundene Weise die Nachkriegserfahrungen aus dem Augenblick heraus sichtbar. Auf eigene Weise; denn die evozierten Bilder und Motive lösten sich aus der Abhängigkeit von Oskar Loerke, Georg Britting, Günter Eich durch die vertrackte, widerborstige Rhythmik der Verse, durch ein Schreiben aus der Sprachbewegung, dessen Modernität durch die Charakterisierung als Musikalität verfehlt würde. Walter Höllerer ist kein aus Klängen webender Lyriker, kein Nachromantiker. So sehr sein Ohr auf Grenzverschiebungen im Wort und im Satz achtet, geht er als Autor mißtrauisch-streng mit der Kunstform des Gedichts um. Ein experimenteller Lyriker, der den Dadaisten und den französischen Lyrikern des Surrealismus nahesteht. (...)

Der Aufstieg des jungen Dichters zu einer der bekanntesten, gefragtesten Persönlichenkeiten des literarischen Lebens in Deutschland, war unaufhaltsam: in der Gruppe 47 wurde der Lyriker, der an einem geheimnisvollen Roman arbeitete, zum kritischen Anwalt einer am Kunstwerk ausgerichteten Moderne. In der 1954 mit Hans Bender gegründeten Zeitschrift "Akzente" entdeckte die deutsche Nachkriegsliteratur ihren Zusammenhang mit Europa. Über alle Veränderungen der Gesellschaft und der Avantgarde hinweg blieb die Zeitschrift der Ort, an dem die Zeichen der Zeit gesetzt wurden: die Konkrete Poesie, der nouveau roman, die Politisierung im Zeichen der Dichtung wurden zuerst in den Heften der "Akzente" vor Augen geführt. (...)

Seit 1960 lehrte Walter Höllerer an der Technischen Universität Berlin Deutsche Philologie, Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. Ein Dichter als Wissenschaftler an einer von technischen und naturwissenschaftlichen Disziplinen beherrschten Hochschule. Spektakulär nahm er diese dreifache Herausforderung an. Er öffnete die herkömmliche Ausbildung den neuen Erkenntnissen einer strukturalistischen Sprachwissenschaft, knüpfte Fäden zwischen der Linguistik am MIT, am Massachusetts Institut of Technology und den zum Teil kaum zugänglichen Neuentwicklungen in Rußland. Er brachte die literarische Avantgarde vor die Studenten fremdester Fächer, öffnete der Stadt Berlin den Blick für moderne Lesereihen und Ausstellungen wie "Welt aus Sprache" (1972) und machte umgekehrt den Dichtern und Künstlern bewußt, wie tief ihre Arbeit vom technischen Zeitalter durchwirkt war.

Die kritische Offenheit für die Möglichkeiten und Gefahren aufstrebender Wissenschaften wie der Kybernetik, der mathematischen Linguistik, der Hirnforschung, vor allem aber der Semiotik machte ihn über viele Jahre zu einem Magier, auch zu einem Rattenfänger jüngerer Generationen, die er zugleich auf die Literatur als Kunst verpflichtete.

Das von ihm gegründete "Literarische Colloquium" in der Carmerstraße und später am Wannsee wurde zum Schmelztiegel für die Literatur der 60er und 70er Jahre. Dabei hatte niemand je weniger Neigung zum Gesetzgeber oder zum Guru, der nach Gefolgschaft verlangt. Den jungen Dichtern und den Studenten zeigte er durch sein Beispiel, daß nur der eigene Weg zur Erkenntnis und zur Kunst führen kann. Wer die Unheimlichkeit der Kunst aus der scharfen Wahrnehmung des Augenblicks zu gewinnen weiß, mißtraut bei sich und anderen dem Dogmatismus methodischer Lehre, nicht den Erkenntnismöglichkeiten eines wissenschaftlichen, eines künstlerischen Neubeginns. Der Organisator, der zeitweilig mehr Fäden in der Hand zu halten hatte als diese fassen konnte, war nicht der Antagonist des Dichters, auch wenn das manchmal den Außenstehenden so scheinen mochte. (...)

Auf den Enthusiasmus von 1968 hatte Walter Höllerer mit Zurückhaltung reagiert. Mißtrauisch gegen das Unduldsame der Heilslehren und gegen die Gewaltbereitschaft, in offener Sympathie für die aufklärerischen Zielsetzungen. Wie aus freiwilligem Exil entstehen in dieser Zeit die Lyrikbände: "Außerhalb der Saison. Hopfengärten in 3 Gedichten und 19 Fotos" (1967) und "Systeme. Neue Gedichte" (1969). Erst um 1975 hob Walter Höllerer von sich aus die Distanz des Individualisten zu den gegenwärtigen Bedingungen im Kollektiv auf, und engagierte sich als Publizist, als Leiter des Literarischen Colloquiums, als Bürger gegen den Militarismus und gegen den drohenden Rechtsradikalismus in der Bundesrepublik. (...)

Im Sommer 1989 konnte er die junge deutschsprachige Literatur der Mauerrisse beschreiben, noch ehe diese Mauer Risse bekommen hatte, nicht weil er den politischen Indizien nachspürte, sondern den literarischen. Eine Probe aufs Exempel? Walter Höllerer glaubt nicht an solche Kurzschlüsse. Immer skeptisch gegenüber voreiligen Parolen, ist er durch Unfall und Krankheit, durch den Kräfteverschleiß in den Institutionen in den letzten Jahren zurückhaltender geworden, ohne sein Engagement aufzugeben. Als spiritus rector des Literarischen Colloquiums verfolgt er die weiteren Wege der von ihm ins Leben gerufenen Zeitschriften und Organisationen mit wacher Kritik. (...)


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