STUDIUM

Mehr allgemeinbildende Studieninhalte

Ein Vorschlag zur Umgestaltung von Studium und Lehre im Ingenieurwesen

Die Ansprüche an die Universitätsausbildung in technischen Fächern sind im Umbruch. Zahlreiche neue Forderungen sind in den vergangenen Jahren hinzugekommen, viele Modelle und Reformideen sind im Gespräch. TU intern will Raum für diese Diskussion geben und stellt heute einen Beitrag von Professor Günter Spur vor.

Unter der Anonymität der Massenuniversität leidet insbesondere die Ausbildung der Studenten. Der unmittelbare, fördernde Kontakt zwischen Lehrenden und Lernenden ist weitgehend verlorengegangen. Gefordert ist daher eine verstärkte Individualisierung und Intensivierung der Ausbildung.

Von den Absolventen der Universitäten werden heute in zunehmendem Maße Fähigkeiten erwartet, die über eine rein fachspezifische Qualifikation hinausreichen. Flexibilität und Kreativität, Motivation, Denken in Zusammenhängen, Folgenabschätzung sowie Kooperations- und Kommunikationsbereitschaft sind Eigenschaften, ohne die leitende Funktionen nicht mehr erfolgreich wahrgenommen werden können. Erforderlich ist die Verbindung von fachlicher Qualifizierung und allgemeiner Persönlichkeitsbildung.

MEHR ALLGEMEINBILDENDE STUDIENINHALTE: Der hohe Spezialisierungsgrad der wissenschaftlichen Disziplinen kann diese geforderte Breite der Ausbildung nicht mehr gewährleisten. Deshalb ist es notwendig, in Anknüpfung an die Idee interdisziplinärer Zentren den Anteil allgemeinbildender Studieninhalte gegenüber dem Fachstudium zu erhöhen.

Die hohe Entwicklungsgeschwindigkeit der Wirtschaft und anderer gesellschaftlicher Bereiche führt zu einem permanenten Erneuerungsprozeß vor allem des spezialisierten Wissens und Könnens. Über das bisher geleistete Maß hinaus wäre die Universität überfordert, die wachsende Vielfalt der Anwendungsformen ihrer Lehrinhalte in ein ständig erweitertes Lehrangebot aufzunehmen. Durch die Konzentration auf Grundlagen kann zugleich eine thematische Straffung des Fachstudiums erreicht werden. Deshalb wird insbesondere von Wirtschaft und Gesellschaft eine Konzentration des Studiums auf die Aneignung von Grundqualifikationen im jeweiligen Fach, aber auch in allgemeinbildenden Disziplinen gefordert.

ERNEUERUNG DER LEHRFORMEN: Die Veränderung der Lehrinhalte muß von einer Veränderung der Lehrformen begleitet sein. Die Lehrmethoden an der Universitat haben in vielen Bereichen das Niveau, das mit der Erfindung des Buchdrucks vorgegeben wurde, nur unwesentlich überschritten. Die heute bestehenden Möglichkeiten, systematisches Grundlagenwissen in Form didaktisch gestalteter, bildungstechnischer Lehrprogramme und Medien bereitzustellen, wird selten genutzt. Deren Vorteil liegt nicht nur in der Entlastung der Lehrenden von Routineaufgaben. Sie ermöglichen den Studenten eine individuelle und damit effektivere Gestaltung des Wissenserwerbs.

PRAXISORIENTIERUNG: Konzentration des Studiums auf die Vermittlung von Grundlagen schließt die Orientierung dieser Grundlagen an den beruflich erforderlichen Qualifikationen ein. Die Formen des Einbezugs beruflicher Praxis ins Studium sind von Disziplin zu Disziplin verschieden. Gemeinsam sollte ihnen jedoch die Repräsentativität der jeweiligen Studienanforderungen für die Berufswirklichkeit sein. Dazu ist die berufliche Praxis ins Studium einzubeziehen. Der Berufsorientierung entspricht auf der anderen Seite die praktische Fundierung theoretischer Lehrinhalte.

Eine für die Studenten effektive und nützliche Form der Berufsorientierung und praktischen Fundierung ihres Studiums ist die aktive Mitarbeit in der Forschung. Daher sollte im letzten Drittel des Studiums die Projektarbeit dominieren. Für fortgeschrittene Studenten bestehen spezielle Möglichkeiten als wissenschaftliche Hilfskräfte in den Forschungsprozeß der Institute integriert zu werden. Darüber hinaus erweist sich das Modell bezahlter studentischer Hilfskräfte gegenüber einer Finanzierung des Studiums durch "Jobben" auch sozialökonomisch überlegen.

Überlange Studienzeiten haben ihren Grund nicht nur in einer wenig effektiven und zeitaufwendigen Studienorganisation. Sie sind auch ein Ergebnis von Studien- und Prüfungsordnungen, die bei vorgegebener relativ langer Regelstudienzeit nur einen einzigen Abschlußtyp ermöglichen. Die Verkürzung des Studiums könnte durch ein System differenzierter, aufeinander aufbauender Abschlüsse erzielt werden, die auf unterschiedlichen Ebenen für eine Berufstätigkeit als Qualifizierung anerkannt werden. Die zukünftige universitäre Ingenieurausbildung sollte sich in drei Phasen gliedern, in das Grund-, Fach- und Vertiefungsstudium.

DREITEILUNG DES INGENIEURSTUDIUMS: Das für alle Ingenieurstudiengänge einheitliche Grundstudium dauert drei Semester. Die Lehrinhalte verteilen sich zu 30 Prozent auf Mathematik und Informatik, zu 30 Prozent auf Naturwissenschaften, zu 20 Prozent auf Technikwissenschaften und zu ebenfalls 20 Prozent auf Wirtschafts- und Sozialwissenschaften.

  • Grundstudium
    Die komplexen Wirkprozesse der Technik erfordern eine entsprechende Integration von neuen Wissensgebieten und gesellschaftlichen Handlungsabläufen, die bereits in der Grundausbildung des Ingenieurs Berücksichtigung finden müssen. Gefordert ist eine ganzheitliche Systemlehre über Aufbau, Funktion und Entwicklung der Technik im Sinne eines einführenden Studiums der Technikwissenschaften. Als Hilfswelt zur Natur übt Technik nicht nur einen prägenden Einfluß auf die Gestaltung des gesellschaftlichen Lebens, sondern auch auf die Natur selbst aus. Eine sich am gesellschaftlichen Wandel orientierende Technologie, sollte auch für andere Disziplinen als ein unverzichtbares Grundlagenfach entwickelt werden.

  • Fachstudium
    Erst zu Beginn des Fachstudiums, also nach drei Semestern, entscheiden sich die Studenten endgültig für eine bestimmte Ingenieurdisziplin als Studienfach, wie zum Beispiel Maschinenwesen (MW), Bauingenieurwesen (BW), Elektrotechnik (ET), Informationstechnik (IT) oder Wirtschaftsingenieurwesen (WI). Nach vier Fachsemestern mit eingeschlossener Bachelor-Arbeit mündet das Ingenieurstudium in den ersten berufsqualifizierenden Universitätsabschluß, den Dipl.-Ing. Bachelor.

  • Vertiefungsstudium
    Zur Erlangung des zweiten Ausbildungsgrades, des Dipl.-Ing. Master, müssen die Studenten ein viersemestriges, seminaristisch aufgebautes Vertiefungsstudium durchlaufen, das viele Wahlmöglichkeiten enthält. Die Qualifizierung ist in dieser Phase stark wissenschaftsorientiert und erfolgt überwiegend durch selbständige Projektarbeit in Forschungszentren und Instituten.

Zur Erprobung eines solchen Studienplans sollte an der TU Berlin schnellstens ein entsprechender Modellstudiengang eingerichtet werden. Im einzelnen bedarf es zunächst detaillierter Überlegungen zur Gestaltung der Studienabschnitte. Es sollte ein Initiativausschuß für neue Studienmodelle vom Präsidenten eingesetzt werden.

Prof. em. Dr. h. c. mult. Dr.-Ing. Günter Spur, Jahrgang 1928, ist einer der bekanntesten Vertreter des Maschinenbaus in Deutschland. 1965 wurde er Professor am Institut für Werkzeugmaschinen und Fabrikbetrieb der TU Berlin, 1976 Leiter des Fraunhofer-Instituts für Produktionsanlagen und Konstruktionstechnik. Im vergangenen Jahr wurde Günter Spur emeritiert.


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