TU intern - Juni 1998 - Aktuelles

Oft gehaßt, doch überall gebraucht - die Mathematik

”Wäre mit der Fähigkeit, Ableitungen oder Grenzwerte berechnen zu können, ein ähnlicher Prestigegewinn verbunden wie mit der Fähigkeit, ein Auto schnell fahren zu können, so stünde es um die Mathematikkenntnisse erheblich besser."
Martin Grötschel

Mathematik - nicht wenige denken bei diesem Stichwort zurück an ihre Schulzeit, oft an ein unbeliebtes Fach und an abstrakte Aufgaben, die mit den Erfahrungen des Alltags so wenig zu tun haben, wie der Fisch mit dem Fahrrad. Für viele Schüler bedeutet Mathematik Kampf mit der Integralrechnung und Angst vor schlechten Noten. Und auch manch ein Student der Ingenieur- und Naturwissenschaften zittert vor diesem Fach.

Im Sommer dieses Jahres treffen sich in der TU Berlin Menschen, die ein ganz anderes Verhältnis zur Wissenschaft der Zahlen haben. Auf dem ”International Congress of Mathematicians" werden sie darüber diskutieren, wo heute die Schwerpunkte mathematischer Wissenschaft liegen. Dabei wollen sie mit einer Ausstellung und einem eigenen Beiprogramm ganz gezielt auch die Öffentlichkeit ansprechen. Über Mathematik, ihr Ansehen und ihre Bedeutung sprach TU intern mit Prof. Dr. Martin Grötschel vom Fachbereich Mathematik der TU Berlin und Präsident des Organisationskomitees zum Mathe-Kongreß.

Herr Grötschel, stimmt das oben gezeichnete Bild von der Angst der Schüler und Studenten vor der Mathematik?

Ja und nein! Vor einigen Jahren gab es eine Umfrage unter Schülern. Sie sollten die beliebtesten und unbeliebtesten Fächer nennen. Die Mathematik kam in beiden Fällen auf Platz 1. Wer mathematisches Talent hat, dem macht das Fach keine Mühe. Wer jedoch mit analytischem Denken Schwierigkeiten hat, der kann schon an den Anforderungen der Mathematik verzweifeln.

Für viele ist der Mathematiker ein Forscher, der im Elfenbeinturm sitzt, an abstrakten Formeln tüftelt und exakte Ergebnisse erhält. Ist dieses Bild noch zeitgemäß?

Die in Einsamkeit mit sich und der Mathematik ringenden Forscher gibt es noch. Andrew Wiles, der vor drei Jahren das Fermatsche Problem gelöst hat, welches über 300 Jahre offen war, und der übrigens am Abend des 19. August darüber in der TU einen Vortrag halten wird, ist sicherlich ein Musterexemplar dieses Typs. Mathematik wird aber immer stärker mit Computerunterstützung gemacht. Teams von Spezialisten arbeiten zusammen. In der angewandten Mathematik ist die Zusammenarbeit ganzer Gruppen von Mathematikern und Fachleuten aus den Anwendungsdisziplinen häufig, und sie ist zunehmend unerläßlich, wenn praxisrelevante Fragen gelöst werden müssen.

Wo liegen heute die Schwerpunkte der angewandten Mathematik?

Die Mathematik dringt in alle Lebensbereiche ein. Es gibt kaum ein Gebiet, bei dem Mathematik nicht als Hilfsdisziplin verwendet wird. Viele Theorien in den Natur- und anderen Wissenschaften könnten ohne Mathematik gar nicht mehr formuliert werden.

Über konkrete Anwendungen kann ich Ihnen stundenlang berichten: Optimierung im Bereich von Transport und Logistik, die Telekommunikationsindustrie wird von Mathematik durchdrungen, neue Materialien und neue chemische Komponenten werden mit Mathematik entworfen, genauso wie Motoren, Kraftwerke und Energieerzeugungssysteme mathematisch gesteuert werden, damit eine hohe Ausbeute bei geringer Umweltbelastung erreicht wird, Banken und Versicherungen bewerten ihre Aktivitäten mathematisch und sichern ihre Daten mit Kryptographie.

1941 entwickelte Konrad Zuse in Berlin den ersten Digitalrechner. Mit der darauf folgenden Verbreitung der Computer hat sich die Informatik entwickelt, eine Wissenschaft, die sich ebenfalls mit Formeln und Rechnen beschäftigt. Wo liegen die Grenzen zwischen Informatik und Mathematik?

Die technische/praktische Informatik ist eine ingenieurwissenschaftliche Disziplin und nicht mathematisch orientiert. Aber zwischen der theoretischen Informatik und der (diskreten) Mathematik sind die Grenzen schwer zu ziehen. Sie befruchten sich gegenseitig durch unterschiedliche Sichtweisen und Zielsetzungen. Gerade hier in Berlin gibt es eine erfreuliche Zusammenarbeit zwischen beiden Bereichen, zum Beispiel im Graduiertenkolleg ”Algorithmische Diskrete Mathematik", das durch FU, HU, TU und ZIB gemeinsam getragen wird.

Mathematische Methoden gewinnen einerseits in allen Bereichen der Wissenschaft an Bedeutung, andererseits ist der Ausbildungsstand der Schulabgänger im Fach Mathematik schlecht. Eine internationale Studie zum Ausbildungsstand deutscher Schüler (TIMSS III) hat kürzlich gezeigt, daß die Schüler der Abgangsklassen im internationalen Vergleich im unteren Bereich liegen, und daß rund 70 Prozent der Schüler über die Beherrschung einfacher Routinen nicht hinauskommen. Wie erklären Sie sich diese Diskrepanz?

Die Ergebnisse sind alarmierend. Ich habe mich mit der Mathematikausbildung in den Schulen jedoch nicht so hinreichend intensiv befaßt, um Ihre Frage kompetent beantworten zu können. Vermutlich sind die Ursachen komplex, und es gibt keine einfache Kur. Ein Problem, das ich sehe, ist das öffentliche Bild der Mathematik. Jeder, und das gilt insbesondere auch für Politiker, kann ohne jeden Schaden für sein Image stolz erklären, daß er keine Ahnung von Mathematik hat. Er bekommt dafür sogar noch Beifall. Stellen Sie sich vor, er würde zugeben, daß er Faust nicht kennt und Kant nicht gelesen hat! Wäre mit der Fähigkeit, Ableitungen oder Grenzwerte berechnen zu können, ein ähnlicher Prestigegewinn verbunden wie mit der Fähigkeit, ein Auto schnell fahren zu können, so stünde es um die Mathematikkenntnisse erheblich besser. Möglicherweise ist dies ein deutsches Phänomen. In Ländern wie Ungarn und Frankreich ist übrigens das Image der Mathematik deutlich besser.

Wie sieht es aus mit den Mathematikkenntnissen der Studienanfänger?

Abgesehen von den bereits erwähnten Ergebnissen der TIMMS-Studie kann ich eigentlich nur Einzelbeobachtungen berichten. Die Mathematikkenntnisse von Studienanfängern der Mathematik sind in der Regel gut, was man eigentlich auch erwarten sollte. Es gibt durchaus exzellente Studienanfänger. Auffällig ist dabei, daß viele davon aus den (ehemaligen) Spezialschulen der neuen Bundesländer kommen. Natürlich begegnen mir und meinen Kollegen in Servicevorlesungen für andere Fachbereiche gelegentlich katastrophale Fälle. Wie immer ist es schwierig, pauschal zu antworten. Die ältere Generation glaubt meistens, daß die Jungen nicht so viel wissen, wie sie selbst früher. Fast immer ist das eine verklärte Sichtweise.


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