TU intern - Mai 1998 - Wissenschaft

Wie eiskalt ist dein Hemdchen

Mit dem Gefriergreifer unterwegs zur Nähmaschine

Jörg Stephan (l.) präsentiert die "automatische Handhabung von biegeschlaffen Bauteilen" - so der "fachchinesische" Ausdruck für den Transport von Textilien - auf der Hannover Messe

Bei der maschinellen Herstellung von Kleidern ist der Transport von Textilien ein großes Problem. Die Stoffe werden für den Nähvorgang heute teilweise immer noch per Hand aufgelegt bzw. abgenommen. Dadurch geht bei der Produktion viel Zeit "verloren". Ein Beispiel: Ein Oberhemd benötigt eine Herstellungszeit von ca. 12 Minuten. Für den eigentlichen Nähvorgang braucht die Maschine lediglich etwa anderthalb Minuten, für den Transport des Hemdes, der sogenannten Handhabung, sind jedoch über 10 Minuten erforderlich.

Um den Vorgang zu beschleunigen sind bereits automatisierte Greifsysteme entwickelt worden, sogenannte Kratzengreifer oder Nadelgreifer. Diese mechanischen Werkzeuge sind jedoch häufig für empfindliche Stoffe und Zuschnitte ungeeignet: Die Nadeln dringen in die Textiloberfläche ein und beschädigen diese.

Dieses Manko soll nun durch den sogenannten Gefriergreifer behoben werden. Hinter der für den Techniker-Laien rätselhaften Bezeichnung verbirgt sich ein modernes automatisiertes Textiltransportsystem, das in der Bekleidungsproduktion angewandt werden soll. Vor fünf bis sechs Jahren hat man mit der Entwicklung des Gefriergreifers, auch "Cryop" genannt, begonnen. Cryop setzt sich aus den beiden Begriffen "Cryo" (=Kälte) und "grippa" (= Greifer) zusammen. Die Textiloberfläche wird mit einer dünnen Schicht destillierten Wassers angefeuchtet, der Gefriergreifer erzeugt Kälte (-10 °C) und dessen kolbenförmige Wirkfläche (Effektor) preßt sich an den Stoff. Die Wasserpartikel gefrieren sofort, der Stoff haftet an dem Effektor und der Greifer kann somit die Textilien transportieren. Durch Erhitzen wird das Eis später aufgetaut, damit der Stoff wieder von dem Greifer gelöst werden kann. Der Gefriergreifer hat den entscheidenden Vorteil, hohe Haltekräfte auszuüben, ohne daß die Textilien beschädigt werden wie bei den herkömmlichen Greifersystemen. Bis jetzt war es allerdings nicht möglich, das Gefriergreifersystem auf den Markt zu bringen. Es war noch nicht vollständig ausgereift.

Dipl.-Ing. Jörg Stephan, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Werkzeugmaschinen und Fabrikbetrieb (IWF) der TU Berlin, arbeitet an einer Optimierung des Systems. Der Greifer brauchte bisher zu viel Zeit, um das Eis aufzutauen. Die Umstellung von Kälte auf Hitze dauerte einfach zu lange. Das bedeutet, die Taktzeiten der Maschine waren zu hoch und es konnte keine effektive Handhabung erzielt werden. Das von Stephan entwickelte Modell taut nun das Eis auf, ohne die Wirkfläche des Greifers zu erwärmen: Durch ein zentrisches Loch in der Wirkfläche des Greifers strömt Preßluft, die sich auf den Stoff drückt. Es entsteht Wärme, da sich ein Luftpolster bildet. Die Eisschicht, die Greifer und Stoff zusammenhält, taut auf und der Stoff wird vom Greifer losgelassen. Gleichzeitig trocknet der Luftstrom die textile Oberfläche. Mit dieser Methode erreicht man beim Ablegen des Textils geringere Taktzeiten der Maschine.

Auf der diesjährigen Hannover-Messe stellte Stephan sein entwickeltes Gefriergreifersystem anhand eines funktionsfähigen Prototypen vor. Der eventuell bevorstehende Vertrieb würde über die eigens gegründete Firma "NAISS Ing.-Büro Jörg Stephan" laufen, die das Produkt auf den Markt bringen soll. Finanziell unterstützt wird die Weiterentwicklung des Systems durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG). Für die erst kürzlich gegründete Firma, die Geräte zur Automatisierung in der Textilindustrie entwickelt, wurde Jörg Stephan im März 1998 ausgezeichnet. Bei dem von "stern", den deutschen Sparkassen und der Unternehmensberatung McKinsey veranstalteten Gründungswettbewerb "StartUP ´97" erreichte der 27jährige Jungunternehmer den mit 20.000 DM dotierten vierten Platz.

Gian Hessami


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