TU intern - Mai 1998 - Vermischtes

Erste Highlights stehen fest:

Weltkongreß der Mathematiker

Natur und Mathematik haben oft mehr miteinander zu tun, als man meint. Der Konkurrenzkampf in der Natur beispielsweise kann mit einer mathematischen Theorie beschrieben werden

Der Internationale Mathematiker-Kongreß, der im August in Berlin stattfindet, könnte unser Bild von der Mathematik verändern: Die als so unverständlich und theoretisch empfundene Wissenschaft scheint sich zu öffnen. Neben zahlreichen Themen, die nur für die Fachwelt interessant sein werden, sind im Kongreßprogramm auch Vorträge zu finden, die von neuen und interessanten Anwendungen der Mathematik berichten. In den vergangenen Jahren hat sich die Mathematik nicht nur in der Physik als nützlich erwiesen, sondern auch in Medizin, Biologie, sowie in den Ingenieur- und Wirtschaftswissenschaften.

NATUR UND MATHEMATIK

Gleich zwei Vorträge im wissenschaftlichen Programm haben die Evolutionstheorie zum Thema. Andreas Dress aus Bielefeld stellt vor, wie man durch den mathematischen Vergleich von Genmaterial einen Stammbaum der Lebewesen nachzeichnen kann. Bislang wurden hierzu die äußeren Merkmale von Tieren und Pflanzen berücksichtigt. Der Vorteil der genetischen Methode: sie ist genauer und kann auch auf kleinste Lebensformen angewandt werden. Die Theorie, die Andreas Dress zusammen mit Biologen - unter anderem mit dem Nobelpreisträger Manfred Eigen - entwickelt hat, ist auch mathematisch reizvoll. Die überraschend geschlossene Theorie erlaubt es, die Sequenzdaten von Genen als Überlagerung elementarer Strukturen aufzufassen - ähnlich wie dies Ingenieure und Naturwissenschaftler von der Fourier-Analyse periodischer Signale kennen.

Bei dem Vortrag des Wiener Mathematikers Karl Siegmund geht es um den Konkurrenzkampf in der Natur und die Frage, wie sich trotzdem eine Kooperation unter den Lebewesen entwickeln konnte. Haben vielleicht die Ausnützer und Falschspieler per Naturgesetz die Oberhand? Bereits Ende der 70er Jahre sind Spieltheoretiker dieser Frage nachgegangen. Berühmt geworden ist ein Turnier, das Robert Axelrod von der Universität in Michigan initiierte, bei dem Computerprogramme in einer digital simulierten Ursuppe gegeneinander antreten mußten. Sieger war damals die Strategie "Tit-for-Tat": Kooperiere, wenn auch der andere kooperiert - breche die Zusammenarbeit ab, wenn der andere sich unkooperativ zeigt. Lange wurde angenommen, "Tit-for-Tat" spiegele die Wirklichkeit gut wider. Doch die reale Welt ist komplizierter: Zufälle stören die Kommunikation, Mutationen sind zu berücksichtigen. Werden sie modelliert, entsteht bei einer Tit-for-Tat-Population eine Kultur der Kooperation, die durch neue Lebewesen schnell ausgenutzt werden kann.

Karl Sigmund und Martin Nowak aus Oxford entwickelten verfeinerte Modelle und eine neue Strategie, die der Umwelt besser zu entsprechen scheint: die sogenannte Pavlov-Strategie. Sie verfährt ähnlich wie "Tit-for-Tat", doch hat sie keine Skrupel, einen Konkurrenten, der sich kooperativ zeigt, auszunutzen, um die eigene Position zu stärken. Sigmund ist eingeladen worden, seine vielbeachtete, mathematisch anspruchsvolle Theorie in einem Plenarvortrag vorzustellen - eine Einladung, die unter Mathematikern als große Ehre gilt.

Weitere Anwendungen der Mathematik werden in dem populärwissenschaftlichen Programm an der Urania vorgestellt. Die Mathematik des CD-Players ist beispielsweise das Thema des holländischen Mathematikers Jacobus van Lindt. Hier garantiert eine mathematisch aufwendige Codierung der Daten auf der CD, daß trotz Kratzer und eventueller Lesefehler die Musik richtig wiedergegeben wird. Walter Schachermayer aus Wien wird über die Mathematik der Finanzmärkte sprechen, und der als Chaos-Forscher bekannt gewordene Bremer Mathematiker Hans-Otto Peitgen stellt medizinische Anwendungen der Mathematik vor, darunter neue Methoden zur computerunterstützten Leberchirugie und der Früherkennung von Brustkrebs.

Die Öffnung der Mathematik ist allerdings nicht nur eine fachliche hin zu Anwendungen, sondern auch eine politische. Wurde bei den zurückliegenden Kongressen noch kritisiert, daß die Mathematiker unter sich bleiben wollten und sich wenig Mühe gaben, ihre Ideen zu popularisieren, sollte es in diesem Jahr keinen Grund für solche Klagen geben. Das umfangreiche Beiprogramm in der Urania umfaßt über ein Dutzend populärwissenschaftliche Veranstaltungen. Sogar die in Gießen entwickelte Ausstellung "Mathematik zum Anfassen" wird gezeigt. Sie verspricht mit aufwendigen Exponaten einen sinnlichen und spielerischen Zugang zu der sonst so abstrakten Wissenschaft.

MATHEMATIK UND KULTUR

Ein weiterer Höhepunkt des Urania-Programms ist ein Vortrag des Schriftstellers Hans Magnus Enzensberger, der kürzlich sein Kommen zugesagt hat. Er wird über die kulturelle Rolle der Mathematik sprechen. Weitere Veranstaltungen - sowohl Vorträge als auch Konzerte - werden das Verhältnis von Musik und Mathematik beleuchten.

Der Internationale Mathematiker-Kongreß findet alle vier Jahre statt und gilt als die wichtigste mathematische Tagung weltweit. Bei der Eröffnungsveranstaltung werden die Fields-Medaillen, der sogenannte Mathematik-Nobelpreis, verliehen. Rund 4000 Teilnehmer aus über 100 Ländern werden in Berlin erwartet. Veranstalter sind die mathematischen Institute der Berliner Universitäten sowie das Konrad-Zuse-Zentrum für Informationstechnik und das Weierstraß-Institut für Angewandte Analysis und Stochastik. Der Kongreß wurde das letzte Mal vor 92 Jahren in Deutschland ausgerichtet. Die letzten Stationen waren Warschau, Berkeley (USA), Tokyo und Zürich.

Vasco Alexander Schmidt


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