TU intern - November 1998 - Wissenschaft

Von Amokläufern und Bindungsbeschleunigern

Stipendium für junge Dozenten an Hendrik Zipse

Wissenschaftler bei der DNA-Analyse. Radikale - die Amokläufer der Chemie - können die Zerstörung der DNA verursachen
Jung und erfolgreich, so könnte man den Chemiker Prof. Dr. Hendrik Zipse beschreiben. Der 1962 Geborene hat nicht nur mit raschen Schritten die einzelnen Stufen der akademischen Laufbahn genommen - 1989 Diplom in Darmstadt, 1991 Promotion in Basel, 1997 Habilitation an der TU Berlin und 1998 Ruf an die Universität München -, auch seine wissenschaftlichen Leistungen brachten ihm Anerkennung ein. Der Fonds der Chemischen Industrie hat ihm für seine hervorragenden Leistungen in Forschung und Lehre ein mit 50000,- DM dotiertes Dozentenstipendium verliehen. Henrik Zipse erhält das Geld in Jahresraten zu 10000,- DM. Die Auszeichnung wird jährlich an etwa fünf junge Dozenten/innen aus allen Bereichen der Chemie vergeben.

Die Forschungsaktivitäten von Henrik Zipse in der Arbeitsgruppe bei Prof. Dr. Dr. h. c. Helmut Schwarz am Institut für Organische Chemie der TU Berlin gelten zwei unterschiedlichen Themengebieten der Chemie biologischer Systeme. Zum einen beschäftigt er sich mit Reaktionen, an denen Radikal-Ionen beteiligt sind, zum anderen mit der Entwicklung von Katalysatoren für die Bildung von Peptidbindungen. In beiden Gebieten geht es um eine möglichst effiziente Kombination von experimentellen und theoretischen Methoden.

STRAHLUNG ERZEUGT MOLEKULARE BRUCHSTÜCKE

Radikale sind sehr reaktive, kurzlebige Moleküle oder Atome. Sie entstehen, wenn hochenergetische, beispielsweise radioaktive, Strahlung auf Moleküle trifft. Solche radioaktive Strahlung prasselt in Form der kosmischen Höhenstrahlung und der uns umgebenden natürlichen Radioaktivität permanent auf unsere Körper ein. Dabei werden die chemischen Bindungen zwischen zwei Atomen gespalten, die entstehenden molekularen Bruchstücke nennt man Radikale. Diesen fehlt nun jeweils ein Bindungspartner und, um diesen Mangel auszugleichen, reagieren sie mit allen möglichen Dingen. Entweder sie tun sich mit anderen Radikalen zusammen oder nehmen anderen Molekülen einen Bindungspartner weg. Dramatische Konsequenzen hat ein solcher Amoklauf, wenn Radikale sich Atome von wichtigen Biomolekülen wie der DNA holen, in der die Erbinformationen einer Zelle gespeichert sind. Die Folge: Die DNA ist defekt. ”Daß Lebewesen trotzdem Jahrzehnte leben können hat damit zu tun, daß die DNA permanent repariert wird. Dazu unterhält jede Zelle einen ganzen Stab unterschiedlicher Reparaturenzyme. Zu einem gewissen Anteil kann der entstandene Schaden an der DNA jedoch nicht wieder repariert werden, was gleichbedeutend mit dem Zerfall der DNA und dem Zelltod ist. Zum Beispiel wenn beide Stränge der DNA - die DNA besteht aus einem gewundenen Doppelstrang - an der gleichen Stelle durchtrennt werden.", erläutert Hendrik Zipse.

ÜBERRASCHENDE ÄHNLICHKEITEN

Besonders interessiert hat ihn die Reaktion von Radikalen mit geladenen Molekülen. Sie sind im Gegensatz zu Reaktionen von Nicht-Radikalen noch nicht näher untersucht worden. Bei den theoretischen Studien hat Zipse nun erstaunliches festgestellt: Die Reaktionen von geladenen Molekülen mit Radikalen weisen eine Reihe von Ähnlichkeiten mit den Reaktionen von geladenen Molekülen mit viel weniger reaktiven Molekülen auf. Das ist insofern überraschend, da sich die Geschwindigkeiten, mit denen Radikale mit geladenen Molekülen bzw. Nicht-Radikale mit geladenen Molekülen reagieren, oft um den Faktor Zehn Milliarden oder mehr unterscheiden. Bei solch großen quantitativen Unterschieden ist nicht unbedingt zu erwarten, daß sich qualitative Ähnlichkeiten in der Reaktion ergeben. Um so erstaunlicher ist es, daß es diese Ähnlichkeiten doch zu geben scheint. Für die Forscher hieß das, von sehr langsamen Reaktionen etwas über sehr schnelle Reaktionen lernen zu können.

REGEL FÜR "AMOKLÄUFER"

Mit Hilfe des sogenannten Methylenologie-Prinzips, das auf der Struktur und den Bindungsverhältnissen von Molekülen basiert, konnte eine einfache Regel formuliert werden, die die Analogie ausdrückt. Spezielle, nämlich sp2-hybridisierte Kohlenstoffatome können in Form von Doppelbindungen oder Radikalzentren als Verbrückungselemente in polaren Reaktionen dienen. Dank dieser Regel hat die Arbeitsgruppe um Hendrik Zipse einige Voraussagen für die Chemie biologisch interessanter Radikale gemacht. Zum Beispiel haben sie mit theoretischen Methoden eine Reaktion untersucht, während der sich eine Gruppe von Atomen von einem Ende eines Moleküls zum anderen bewegt. Diese Reaktion läuft mit sehr unterschiedlicher absoluter Geschwindigkeit in Radikalen (schnell) bzw. in Nicht-Radikalen (langsam) ab. Trotzdem weist sie große qualitative Ähnlichkeit auf. Für die langsame Reaktion ist schon lange bekannt, daß die Reaktionsgeschwindigkeit durch Säuren gesteigert werden kann. Die TU-Wissenschaftler fanden heraus, daß für die sehr schnelle Reaktion in Radikalen ebenfalls ein solcher Effekt zu erwarten sein sollte. Zu ihrer Freude ist dies unlängst durch eine Schweizer Arbeitsgruppe aus Fribourg auch experimentell bestätigt worden.

An der TU Berlin wird im Rahmen des Projekts ”Theoretische Modellstudien zur Chemie von DNA-Radikalkationen in wäßriger Lösung" an weiteren Voraussagen, die mit verfeinerten theoretischen Studien überprüft werden sollen, gearbeitet. Das Projekt, das die VW-Stiftung für zwei Jahre mit rund 165000,- DM unterstützt, wird in Zusammenarbeit mit den Arbeitskreisen von Prof. Bernd Giese (Universität Basel) und Prof. Steen Steenken (Max-Planck-Institut für Strahlenchemie, Mülheim) durchgeführt.

BINDUNGSSTÜCKE LANGER KETTEN

In dem zweiten Arbeitsgebiet haben Zipse und sein Team, seit 1997 gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG), Reaktionen untersucht, in denen eine Amidbindung gebildet wird. Unter Amid- bzw. Peptidbindungen versteht man die Bindung zwischen zwei Aminosäuren. Letztere sind die Grundbausteine für den Aufbau von Proteinen, die aus Aminosäuren durch Bildung langer Ketten entstehen. Die Information darüber, welche Aminosäuren zu einem Protein zusammengebaut werden sollen und in welcher Reihenfolge dies zu geschehen hat, sind auf der DNA festgehalten. Ein ziemlich komplexes System namens Ribosom sorgt in jeder Zelle dafür, daß die DNA-Information möglichst fehlerfrei in eine Proteinstruktur ”übersetzt" wird.

”Ziemlich professionell verläuft auch die Zersetzung der Proteine, die man hoffentlich reichlich mit dem Frühstücksjoghurt zu sich genommen hat. Im Verdauungstrakt sind beim Stoffwechsel eine Reihe hochspezialisierter Enzyme mit nichts anderem beschäftigt, als die Proteine durch Spaltung der Peptidbindungen wieder in die einzelnen Aminosäuren zu zerlegen und sie so wieder für die Synthese neuer Proteine verfügbar zu machen", klärt Zipse auf.

KÜNSTLICHE BINDUNGSBESCHLEUNIGER

Zu klären galt es nun, wie die Bildung von Amidbindungen beschleunigt werden kann. Von Natur aus ist die Reaktion zwischen zwei Aminosäuren langsam. Das gilt auch für die Rückreaktion, die Spaltung der Proteine in Aminosäuren. Die Frage war: Können theoretische Vorhersagen gemacht werden, wie ein guter Katalysator aussehen sollte und dann hinterher im Experiment festgestellt werden, daß die Vorhersage richtig oder auch falsch war?

Die TU-Forscher haben den Verlauf dieser Reaktionen deshalb theoretisch untersucht und nach den Faktoren gesucht, die die Reaktionen verlangsamen. Die Resultate der theoretischen Studien sind dann direkt in den Entwurf einfacher Katalysatoren - also Verbindungen, die die Reaktion beschleunigen - eingeflossen. Dabei orientieren sich die TU-Forscher nicht an den Katalysatoren, die in der Natur für Bildung und Bruch der Amidbindung verantwortlich sind. Die eingesetzten Katalysatoren sind strukturell verschieden und haben nur eine gemeinsame Eigenschaft: Sie vereinfachen die Übertragung eines Protons von einem zum anderen Ende eines Moleküls.

Nach dem Design der Katalysatoren werden diese im Labor synthetisiert und die katalytische Aktivität überprüft. Die TU-Wissenschaftler erwarten nicht, daß auf Anhieb Verbindungen gefunden werden, die in ihrer Aktivität natürlich vorkommenden Enzymen gleichkommen. Sie sind dennoch guter Hoffnung, daß die Kombination von theoretischen und experimentellen Studien nach einigen Entwicklungszyklen zu einem brauchbaren Ergebnis führen wird. Gleichzeitig bauen sie darauf, daß ihre Vorgehensweise dazu beiträgt, das Verständnis für die Funktionsweise unserer Katalysatoren zu verbessern.

Die Karriere von Hendrik Zipse geht indessen weiter. Er hat inzwischen einen Ruf an die Ludwig-Maximilians-Universität in München angenommen und wird dort am Institut für Organische Chemie - zusammen mit seinen Mitarbeitern aus Berlin weiterforschen, denn die Projekte werden in München weitergeführt.

tui


© 11/'98 TU-Pressestelle