TU intern - April 1999 - Studium

Ich sehe eine Stimme

Projekttutorium Gebärdensprache an der …

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Zwei Menschen unterhalten sich, man steht daneben und versteht kein Wort. Diese Situation dürfte vielen bekannt vorkommen, fast jeder hat ähnliches schon einmal im Urlaub oder auf Reisen erlebt. Aber in diesem Fall ist das etwas anders: Der Ort des Geschehens ist nicht irgendein fremdes Land, sondern ein ganz normaler Seminarraum der TU Berlin. Trotz angeregter Unterhaltung ist kein Laut zu vernehmen. So geschehen Freitag nachmittags im vergangenen Wintersemester, kurz vor Beginn des Projekttutoriums "Gebärdensprache".

Etwa 20 Teilnehmer und Teilnehmerinnen hatten dort Gelegenheit, die Grundkenntnisse der Deutschen Gebärdensprache zu erlernen. Erteilt wurde der Unterricht von Ingo Barth und Mathias Schäfer. Sie gehören zu den wenigen gehörlosen Studenten im Raum Berlin/Brandenburg, und sie haben mit Hilfe anderer das Projekttutorium "Gebärdensprache" ins Leben gerufen.

Etwa 0,1% der deutschen Bevölkerung ist gehörlos. Sie bilden eine Minderheit, die nach den Erfahrungen der beiden Studenten in vielen Bereichen des sozialen Lebens benachteiligt, ausgegrenzt oder zumindest mißverstanden wird. Zur Kommunikation untereinander benutzen sie häufig die Deutsche Gebärdensprache (DGS), eine visuelle Sprache, die außerhalb dieser Gruppe wenig Verbreitung gefunden hat und in vielen Bereichen nicht vollständig erforscht wurde. Mit dem Projekttutorium wollen die beiden Studenten einen Beitrag zur erhöhten Akzeptanz der Gehörlosigkeit und der Gebärdensprache leisten.

Anders als in den skandinavischen und angelsächsischen Ländern, so erklären sie, werde die DGS in Deutschland noch nicht offiziell anerkannt. Dabei gehöre auch diese Sprache als Beitrag einer Sprachminderheit zur Gesamtkultur des Landes. Neben der Bedeutung der DGS für die Kommunikation habe die Gebärdensprache auch einige Vorteile gegenüber den akustischen Sprachen. In der Informationsübermittlung sei sie diesen als visuelle Sprache in einigen Punkten sogar überlegen, zum Beispiel in der Schnelligkeit und der Differenziertheit. Die Verwendung der Gebärdensprache fördert außerdem das Abstraktionsvermögen, schärft die Beobachtungsgabe und verbessert die optische Lernfähigkeit.

Der in Deutschland relativ geringen Verbreitung der DGS steht eine hohe Nachfrage nach Kursen gegenüber, die bislang eine Domäne der Volkshochschulen waren. "Durch meinen Unterricht an der Universität Potsdam konnte ich die Erfahrung machen, daß auch an den Unis solche Kurse verstärkt angeboten werden sollten", erklärt Mathias Schäfer. Daraus entstand die Idee, an der TU solche Kurse zu veranstalten. In zwölf Sitzungen sollten die Teilnehmer und Teilnehmerinnen die Grundlagen der visuellen Sprache erlernen, d. h. den Einsatz von Körpersprache und Mimik, das Gebärdensprachvokabular und das Sätzebilden.

Über mangelnde Nachfrage konnten sich Ingo Barth und Mathias Schäfer bei ihrem ersten Kurs nicht beklagen. Nahezu hundert Interessenten meldeten sich, nachdem die Veranstaltung im alternativen Vorlesungsverzeichnis angekündigt wurde. Es entstanden zwei Kurse, deren Teilnehmerzahl auf je 20 begrenzt wurde. "Unsere Gebärdensprache ist eine rein visuell orientierte Sprache, die viel Raum um den Körper braucht. Die Teilnehmer und Teilnehmerinnen müssen im Halbkreis um uns sitzen, damit eine optimale Wahrnehmung gewährleistet werden kann", erklärt Mathias Schäfer diese Maßnahme. "Zum anderen müssen wir auch die Möglichkeit haben, die Leistungen der Teilnehmer/innen zu überprüfen und einschreiten, wenn möglich, bei allen gleichzeitig."

Mit dem ersten Durchgang des Kurses sind Mathias Schäfer und Ingo Barth hoch zufrieden. "Unsere Erwartungen wurden übererfüllt", sagt Mathias Barth zu der Veranstaltung, bei der nicht nur die Kursleiter Freude an ihrer Arbeit hatten. Auch die Schüler und Schülerinnen hatten - obwohl es für sie viel zu lernen gab - viel Spaß dabei. Daß der Kurs auch bei ihnen sehr gut ankam, erkennt man wohl am besten daran, daß viele sich schon vorsorglich für den nächsten Kurs angemeldet haben. Zukünftig wollen Ingo Barth und Mathias Schäfer laufend Kurse, sowohl für Anfänger als auch für Fortgeschrittene, anbieten, denn - und das dürfte die DGS wohl mit Italienisch, Spanisch und vielen anderen Sprachen gemeinsam haben - eine schöne Sprache lernt man bekanntlich nicht in einer Nacht.

urs

* TU Berlin

Das Projekttutorium "Gebärdensprache" ist am FB 1, Institut für Linguistik, bei Prof. Posner angesiedelt. Weitere Informationen gibt's bei Ingo Barth, Fax 61 30 44 60, E-Mail ingo.barth@cityweb.de, Matthias Schäfer, Fax 85 86 47 70, E-Mail schaef@rz.uni-potsdam.de und Brigitte Lengert, Beauftragte für Behindertenfragen an der TU Berlin, Tel.: 314-2 56 07


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