TU intern - Erstsemester-Special WS 1999/2000 - Studium

"Teilnehmend und körperbetont" fremde Welten entdecken …

Der Campus: ein unbekanntes Universum

Captain Ewers und seine Crew heißen die Erstsemester an Bord der Technischen Universität Berlin herzlich willkommen

Das Streben nach Wissen, dem Instrument zur Weisheit, steht nun für Sie im Mittelpunkt des Lebens. Lernen, das ist fortan nicht mehr der schlecht vorbereitete Vokabeltest, der Spickzettel für die Erdkunde-Klausur oder das Pauken der lateinischen Grammatik. Das künftige Lernen ist dem Studium gewidmet. Die jeweilige Disziplin ist dabei mehr als es das Fach in der Schule war, denn sie eröffnet den Zugang zur Wissenschaft. Einziges Ziel der Wissenschaft ist es, so ließ es der Dichter Bertolt Brecht seinen Galilei beurteilen, die Mühseligkeiten der menschlichen Existenz zu erleichtern. Das jeweilige Fach ist einer der Wege zum großen Ganzen; die Fachrichtung eine Spur auf der Suche nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält. Es liegt also auf der Hand, dass der Studienbeginn ein Ereignis von außergewöhnlicher Bedeutung ist. Dazu, liebe Erstsemester, herzlichen Glückwunsch!

EIN LAND MIT FREMDEN GESETZEN

Einzutauchen in das Studium, in die Welt der Wissenschaft ist für viele sicher zunächst einmal wie eine Reise in ein fernes, fremdes Land mit einem ungewöhnlichen Alltag. Viel gibt es zu entdecken: Was mag ein KVV sein, was der AStA, wer bitte sind HUB und FUB, um wie viel Uhr ist c.t. und wessen Initialen sind "AS", der hier offenbar so viel zu sagen hat? Der Nabel dieses Lands des Wissens ist der Campus: das Gelände zwischen dem Tiergarten und dem Ernst-Reuter-Platz, zwischen 17. Juni und der Spree. Wie bei einer Ferienreise reicht die Kenntnis dessen, wo das Land liegt, noch kein bisschen weiter, um es zu verstehen. Es hat seine eigenen Gesetze, die spannend sind und sich nach und nach erlernen lassen. Einige seiner Oasen, an denen sich die landestypischen Riten vortrefflich studieren lassen, sind das Café Campus, das TELquell oder - mit herrlichem Blick über Berlin - die Cafeteria in der Spitze des Telefunken-Hochhauses. Keine Frage: Der Campus ist eine Reise wert, es gilt ihn in Ruhe zu erkunden, ihn mit fremder Hilfe und allein zu erforschen. Schließlich wird er schon nach kurzer Zeit ein kleines Stückchen Heimat werden.

Wer an der Technischen Universität Berlin sein Studium aufnimmt, hat ohnehin in vielen Fällen bereits ein neues Stück dieser Welt zu erkunden begonnen: Berlin. Ein Großteil der Immatrikulierten ist erst zum Studium in die Stadt gekommen und versucht, sich in der neuen Welt zurechtzufinden. Land und Leute kennenzulernen beginnt für viele bei der Schrippen-Verkäuferin, die das freundlich-schüchterne "Guten Morgen" mit einem lauten "Wat jet'n Sie det an?" kontert; auf dem U-Bahn-Weg zur Uni folgt die Lehrstunde "Nich in 'n erstn Wagn mit die Räder", und rund um den Ernst-Reuter-Platz stellen Autofahrer gerne unter Beweis, dass sie den Kampf gegen die weltweite Überbevölkerung aufgenommen haben. Unweigerlich wird die erste Verabredung mit der netten Kommilitonin daran scheitern, dass die Entfernung zum Treffpunkt bei weitem unterschätzt und der Termin um mindestens eine halbe Stunde verpasst wurde. Und wer doch rechtzeitig im richtigen "Kiez" war, läuft garantiert in die falsche Richtung, weil die Hausnummern auf der einen Straßenseite steigen, auf der anderen aber wieder fallen. - Det is Berlin.

FREMDER ALS BAYERN

Es gibt auch die ganz Harten: Manchen reichen die fremden Länder "Campus" und "Berlin" noch immer nicht für ihre akademische Laufbahn, sie stillen nicht den Durst, die Welt zu entdecken. Diese besonders Wissbegierigen studieren eine Zeit lang an noch ferneren Universitäten, noch weiter und fremder als Bayern. Reisen bildet bekanntermaßen, und so gehen sie ins Ausland, um dort, wie zuvor in Berlin, Land und Leute zu erforschen. Im Ausland erlernen oder perfektionieren sie ihre Sprachkenntnisse und - so sagen die Erfahrungen der Rückkehrenden - bemühen sich auf je ganz individuelle, bisweilen körperbetonte Art um internationale Völkerverständigung.

Teilnehmende Beobachtung nennen die Ethnologen dieses Studium des zeitweiligen Lebensumfelds, und die findet selbstverständlich auch auf dem Campus der TU statt: Denn wer sich einmal von der Vorstellung löst, auf dem Unigelände nur seinerseits zahlreiche Mitstudierende aus fremder Umgebung beobachten zu können, wird feststellen, wie vielfach die deutschen Eingeborenen studiert, also von aufmerksam beobachtenden Gästen begutachtet werden. 165000 ausländische Studierende sind zur Zeit an deutschen Hochschulen eingeschrieben, knapp 6000 davon an der TU Berlin.

UNI LEBEN HEISST; ERFORSCHT WERDEN

Wer sein Auslandssemester hier verbringt, dessen Deutschlandbild wird folgerichtig in hohem Maße von Berlin, vom Miteinander rund um den Campus am 17. Juni geprägt. Am Uni-Leben teilzunehmen, heißt nicht nur forschen, sondern auch erforscht zu werden. Das Studium, das Erkunden der Welt der Wissenschaft ist also auch ein Weg zu gemeinsamer Erkenntnis. Wechselseitige Kenntnis und gemeinsame Erkenntnis wiederum sind entscheidende Grundlagen der Toleranz.

Und auf tolerantes Miteinander ist eine Gruppe in Berlin ganz besonders angewiesen: Wie ein Großteil der Erstsemester ist diese Gruppe neu in der Stadt, irrt dieser Teil der Bevölkerung durch ein noch immer gänzlich fremdes Land. Man nennt diese Gruppe "die Bonner". Zwar stammen die wenigsten von ihnen wirklich aus dem Städtchen am Rhein, aber beharrlich identifizieren sie sich über diese eine kurze Silbe, in deren Aussprache sie so erstaunlich viel Liebe und Wehmut legen können: "BONN" - Viele von ihnen haben Angst vor der Welt, vor ihrer unüberschaubaren Größe, manch einer auch vor neuen Erkenntnissen. Das fremde Land Berlin zu erforschen, ist der Bonner Sache nicht. In eingeschworenen, sich abgrenzenden Zirkeln wird die teilnehmende Beobachtung strikt verhindert. Liebe Erstsemester, halten Sie es mit dem Galilei aus Brecht, erleichtern Sie die Mühseligkeiten menschlicher Existenz: Betreiben Sie Wissenschaft - und seien Sie nett zu den Bonnern.

Leonard B. Schilling


© 10/'99 TU-Pressestelle