TU intern - Juli 1999 - Hochschulpolitik

Nicht Verkürzung der Studienzeiten, sondern größere Qualifikationsvielfalt

Was die Wirtschaft von den neuen Studienabschlüssen Bachelor und Master hält

Bessere Kompatibilität mit dem weltweit verbreiteten Ausbildungsstandard und größere Vielfalt der Abschlußqualifikationen machen Bachelor und Master für die Industrie wünschenswert
Die Diskussion um die Einführung neuer Studienabschlüsse ist in vollem Gange. Als Argumente dafür werden oft kürzere Studienzeiten und die Akzeptanz der Abschlüsse im Ausland angegeben. TU intern interessierte sich für die Position der Wirtschaft zu diesem Thema. Für die Firma Siemens antwortete Dr. Kruno Hernaut, Leiter der Bildungspolitik in der Zentralabteilung der Siemens AG:

Die Einführung von neuen konsekutiven Studiengängen mit den Abschlüssen Bachelor und Master wird von Siemens ausdrücklich befürwortet. Wir sehen die Vorteile der neuen Ausbildungsstrukturen in der besseren Kompatibilität mit dem weltweit verbreiteten De-facto-Ausbildungsstandard im Hochschulbereich, der stärkeren Internationalisierung der deutschen Hochschulausbildung, der besseren Positionierung und Attraktivität der deutschen Hochschulangebote im internationalen Bildungsmarkt und der größeren Vielfalt unterschiedlicher Abschlußqualifikationen, die dem Bedarf der Industrie besser entgegenkommen. Deshalb haben wir an der Diskussion um die nun stattfindende strukturelle Erweiterung der Studienangebote an den deutschen Hochschulen von Anfang an aktiv teilgenommen und unsere Wünsche und Erwartungen entsprechend artikuliert.

MANGELNDE ATTRAKTIVITÄT

Der Ausgangspunkt unserer Überlegungen war die zunehmend mangelnde Attraktivität deutscher Hochschulangebote im Ausland. Obgleich die deutsche Ingenieurausbildung weltweit ein hohes Ansehen genießt, meiden die internationalen Studentenströme zunehmend den Bildungsstandort Deutschland. Die Ursache für diese Entwicklung ist nicht die mangelnde Qualität unserer Hochschulangebote, sondern das veränderte Verhalten der Bildungskunden (Studenten) in der Welt. Sie suchen weltweit zunehmend Studiengänge nach anglo-amerikanischem Muster, die international kompatibel sind und zu den gestuften Graden "Bachelor", "Master" und "Ph.D." führen.

Wir empfehlen deshalb den Hochschulen die Verfolgung einer Doppelstrategie: die Beibehaltung der bewährten Diplom- und Magisterangebote und zugleich, dort wo angebracht und benötigt, die rasche Einführung von zusätzlichen gestuften Studiengängen mit Bachelor- und Masterabschluß.

Siemens beschäftigt in Deutschland gegenwärtig rund 50000 Hochschulabsolventen. Nahezu 90 % sind Ingenieure und Naturwissenschaftler. Sie bilden somit unsere Hauptzielgruppe bei der Gewinnung des akademischen Nachwuchses.

Die unterschiedlichen Aufgaben etwa in Forschung und Entwicklung, Produktentwicklung, Fertigung, Vertrieb, Projektierung und Service erfordern Ingenieure mit unterschiedlichen Qualifikations- und Kompetenzprofilen. Von der Einführung der neuen Bachelor- und Masterabschlüsse erwarten wir uns eine größere Qualifikationsvielfalt und somit eine noch bessere qualitative Deckung unseres Bedarfes. Dabei gehen wir auch davon aus, daß die neuen Qualifikationsangebote im Bereich der sogenannten "übergreifenden Masterstudien" (z. B. MBA, Systems Engineering, Industrial Engineering u.ä.), die bisher noch vorhandenen Lücken in unserem Bildungssystem in Zukunft schließen werden.

Wir stehen den Absolventen von neuen Bachelor-Master-Studiengängen positiv gegenüber und warten auf die ersten Bewerber. Wir werden sie entsprechend ihrer im Studium erworbenen Kompetenz in den o.a. Aufgabengebieten einstellen und dabei entsprechend der KMK-Äquivalenzempfehlung verfahren, wonach Bachelor dem tradierten Fachhochschuldiplom und Master dem Universitätsdiplom entspricht. Die Einstellgehälter werden sich an diesen beiden Kompetenzniveaus orientieren. Dies bedeutet, daß der zukünftige Bachelor of Science oder Bachelor of Engineering zu gleichen Konditionen eingestellt wird wie der herkömmliche Diplomingenieur von der Fachhochschule. Wir erwarten auch, daß sich die neuen Bachelorabschlüsse (Uni und FH) im Kompetenzniveau von den bisherigen Fachhochschulabschlüssen nicht wesentlich unterscheiden werden, wohl aber im Profil und somit in der spezifischen Eignung zur Übernahme bestimmter Aufgabengebiete. Und hier erwarten wir, daß jede Hochschule ihr eigenes Profil klar definiert und dies nach außen transparent macht.

60 PROZENT ALLER ARBEITSPLÄTZE

Den quantitativen Bedarf an zukünftigen Bachelor- und Masterabsolventen können wir aus heutiger Sicht durch Extrapolation des Status quo und anhand von Erfahrungswerten aus dem Ausland, insbesondere aus den USA und aus Großbritannien, abschätzen. Gehen wir davon aus, daß Bachelorabsolventen im wesentlichen für die Aufgaben in Frage kommen, die heute von Fachhochschulabsolventen wahrgenommen werden, so sind dies bei Siemens rund 60 % aller Arbeitsplätze für Ingenieure. Im eingeschwungenen Zustand könnten wir demnach einen Bedarf von 60 % Bachelors und 40 % Masters haben.

Dabei könnte die zeitliche Entwicklung eines Absolventenjahrganges für Ingenieure nach folgendem Zukunftsszenario ablaufen:

WIR SIND VORBEREITET

Von 100 % Bachelorabsolventen eines Jahrganges ergreifen 80 % unmittelbar nach dem Abschluß den Beruf und 20 % setzen ihre Ausbildung in einem Masterprogramm fort. Sie kommen mit einer Verzögerung von einem bis zwei Jahren in das Beschäftigungssystem. Während der Berufsausübung entscheiden sich zusätzliche 20 % der Bachelors zu einer Weiterqualifizierung zum Master. Dies geschieht in unterschiedlichen Studienmodellen wie Vollzeit, Teilzeit, Fernstudium u. ä., so daß in der betreffenden Absolventengeneration des betrachteten Jahrganges nach etwa 10 Jahren insgesamt 40 % eine Masterqualifikation erworben haben. Wir sind auf solche Szenarien vorbereitet und werden unsere Personalplanung entsprechend ausrichten.

Sollte tatsächlich ein überwiegender Teil der Bachelorabsolventen unmittelbar nach dem Abschluß die Berufsausübung aufgreifen und ein Teil davon erst im Laufe des "Lebenslangen Lernens" eine Weiterqualifizierung anstreben, so würde dies in der Tat auch zu einer statistisch spürbaren Absenkung des Alters von Berufsanfängern führen. Obgleich die "Verkürzung der Studienzeiten" nicht im Fokus unserer Anforderungen im Zusammenhang mit der Bachelor-Master-Einführung steht, käme dieser willkommene Nebeneffekt der seit langem erhobenen Forderung der Wirtschaft nach jüngeren Absolventen in unserem Lande entgegen.


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