TU intern - Juni 1999 - Wissenschaft

Mathematiker und Philosoph

Eine wissenschhaftliche Biographie Richard von Mises

Berlin-Charlottenburg, Siegmundshof 9. Wohl die wenigsten, die heute von der S-Bahn-Station Tiergarten Richtung Spree gehend hier vorbeikommen, wissen, daß dieses Haus in den letzten Jahren der Weimarer Republik ein Ort internationaler geistiger Begegnung war. Hausherr des im Krieg zerstörten Hauses war der 1883 in Lemberg geborene österreichische Mathematiker, Ingenieurwissenschaftler, positivistische Philosoph und Rilke-Spezialist Richard von Mises.

Von Mises war seit 1909 Professor für angewandte Mathematik an der Universität Straßburg gewesen, hatte dort seit 1913 die ersten Universitätsvorlesungen zur Fluglehre gehalten, während des Krieges in Wien für das k.u.k. Fliegerkorps das erste Großflugzeug konstruiert und Straßburg 1918 nach dem verlorenen Krieg verlassen müssen.

ANGEWANDTE MATHEMATIK

Die Technische Hochschule Dresden, an der er kurzzeitig Unterschlupf fand, schickte nach seiner Berufung nach Berlin 1920 seine Personalakte "der Zuständigkeit halber" an die TH Charlottenburg. Diese mußte jedoch antworten, daß Richard von Mises an "der Technischen Hochschule Berlin nicht bekannt" sei. Von Mises war nämlich an die Berliner Universität berufen worden, an das von ihm neu geschaffene "Institut für Angewandte Mathematik". Dies war nun eine Disziplin, die in gleicher Nähe zwischen Ingenieurwissenschaften und theoretischer Mathematik angesiedelt war und damals nicht zuletzt wegen des Krieges an verschiedenen deutschen Universitäten etabliert wurde. Von Mises gründete in Berlin die erste Fachzeitschrift, die seit 1921 erscheinende "Zeitschrift für Angewandte Mathematik und Mechanik" (ZAMM), die noch heute mit führend ist. Er bewies bald, daß er auch theoretischer Mathematiker war, und gab seine berühmte, auf dem Häufigkeitsbegriff basierende Neubegründung der Wahrscheinlichkeitsrechnung (1919/20). Nach vorübergehender Diskreditierung gewann diese in den 60er Jahren im Kontext von Informatik und Algorithmentheorie neue Bedeutung.

Obwohl von Mises an der Berliner Universität wirkte, hielt er zu den Kollegen der TU Kontakt, vor allem mit den Philosophen Joseph Petzold und Walter Dubislav, die 1927 die Gesellschaft für Empirische Philosophie gegründet hatten. In dieser trafen sich im Sinne der Bemühungen um eine antimetaphysische, moderne Welt- und Wissenschaftsauffassung zahlreiche Berliner Naturwissenschaftler, Mathematiker, Mediziner und Philosophen zu regelmäßigen Sitzungen.

LEHRBUCH DES POSITIVISMUS

Von Mises war aufgrund seiner häufigen Reisen zu seiner Familie in Wien der ideale Verbindungsmann zum bekannten Wiener Kreis des logischen Empirismus, hielt sich aber seiner ohnehin etwas elitären Lebenshaltung gemäß etwas abseits von beiden Gruppen. Immerhin schrieb er 1938 in der Emigration das erste zusammenfassende Buch, das Kleine Lehrbuch des Positivismus. Mises war wie viele andere namhafte Wissenschaftler vom Antisemitismus der Nazis vertrieben worden. Er nahm eine Professur in Istanbul an und ging 1939 an die amerikanische Harvard University, wo er 1953 verstarb.

Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert seit März 1999 das Projekt einer wissenschaftlichen Biographie von Richard von Mises mit einer Sachmittelbeihilfe an Professor Dr. Eberhard Knobloch vom Institut für Philosophie, Wissenschaftstheorie, Wissenschafts- und Technikgeschichte der TU. Hauptbearbeiter ist der Autor dieses Beitrages, der auch die Ausstellung "Terror and Exile. Persecution and Expulsion of Mathematicians from Berlin between 1933 and 1945" mit organisiert hat, die im August 1998 im Lichthof der TU anläßlich des Internationalen Mathematikerkongresses gezeigt wurde. Kataloge zum Preis von 15 DM, die auch Näheres über Richard von Mises enthalten, sind noch erhältlich über: Geschäftsstelle DMV, Frau A. Bertold, Mohrenstraße 39, 10117 Berlin.

Dr. Reinhard Siegmund-Schultze


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