TU intern - Juni 1999 - Menschen

Den Zufall im Griff

Des einen Frust, des anderen Lust: Mathematikern hilft die Theorie der Warteschlangen bei der Lösung von Problemen, die durchaus Relevanz für die Praxis haben
Eigentlich ist es kaum zu glauben: In unserer Zeit der Globalisierung, der Kommmunikations- und Informationstechnologie gibt es in der Wissenschaft große Mengen an Informationen, die nicht oder nur wenig genutzt werden können. Ursache dieses Übels: Die Publikationen liegen in Russisch vor, eine Sprache, die von einem Großteil der Wissenschaftler nicht beherrscht wird.

Die Möglichkeit, Zugang zu bisher unerschlossenem Material zu erhalten, war aber nur einer der Gründe, die es für Prof. Dr. Günter Hommel zu einer besonderen Freude machten, Prof. Dr. Dr. Igor Kovalenko vom V. M. Glushkow Institut für Kybernetik in Kiew bereits zum zweiten Mal zu einem Gastaufenthalt an der TU Berlin begrüßen zu können.

Igor Kovalenko beherrscht mehrere Sprachen perfekt, darunter Russisch und Englisch, und kann so als Mittler zwischen der "östlichen" und der "westlichen" Forschungswelt tätig werden. In den Ländern der ehemaligen Sowjetunion ist er auch einer der angesehensten Mathematiker auf dem Gebiet der Stochastik. Dieser Zweig der Mathematik, der mit Wahrscheinlichkeitsrechnung und Statistik zufällig auftretende Ereignisse beschreibt, kann Fragen nach der Zuverlässigkeit komplizierter Prozesse in Technik und Wirtschaft beantworten. So können Kovalenkos Theorien zum Beispiel in der Telekommunikation eingesetzt werden.

UNGLAUBLICH VIELE GLEICHUNGEN

Die mathematische Beschreibung der Frage "Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, daß ein Freizeichen ertönt, wenn ich den Telefonhörer abhebe", also die Frage nach der Zuverlässigkeit des Telefonnetzes, liefert die Warteschlangentheorie. Aber auch für die Einschätzung der Sicherheit computergesteuerter Prozesse, zum Beispiel in chemischen Anlagen, sind stochastische Methoden ein wichtiges Hilfsmittel. Dabei geht es weniger um die Frage, ob und wie sicher die Anlage selbst ist. Ziel ist es viel mehr, herauszufinden, wie zuverlässig die in der Prozeßkontrolle eingesetzten Computer arbeiten und wie groß die Wahrscheinlichkeit ist, daß es zu Unfällen kommt, die auf Fehlfunktionen der Computer zurückzuführen sind.

Eines haben der Weg des Fernsprechsignals durch das weit verästelte Telefonnetz und die Steuerung komplizierter chemischer Prozesse gemeinsam: Zur Beantwortung der Frage, welche Kombination von Ereignissen am wahrscheinlichsten ist, benötigt man Systeme mit unglaublich vielen Gleichungen.

Die Arbeit Kovalenkos und seiner Kollegen an der TU Berlin besteht darin, neue mathematische Lösungs- und Simulationsverfahren zu entwickeln, um diese Millionen von Gleichungen handhaben und näherungsweise lösen zu können.

Daneben beteiligt sich Kovalenko, der nicht nur in Mathematik, sondern auch in den Ingenieurwissenschaften promoviert und über 20 Bücher publiziert hat, auch an der Lehre. Er zeigte sich beeindruckt über den hohen Ausbildungsstand der Berliner Studierenden und betonte die Bedeutung des wissenschaftlichen Austauschs, der zwischen Kiew und der TU Berlin in Zukunft auch über Austauschprogramme des DAAD intensiviert werden soll.

Kovalenko, der auch Mitglied der Akademie der Wissenschaften der Ukraine ist, äußerte sich besorgt über die Situation der Wissenschaft in seinem Heimatland. Zwar sei nun ein Austausch mit Wissenschaftlern in allen Ländern der Welt möglich, gleichzeitig aber die ökonomische Situation sehr schlecht. Insbesondere fehle die finanzielle Unterstützung, um den wissenschaftlichen Nachwuchs ausreichend zu fördern.

Seine eigenen Interessen, so gesteht Kovalenko schmunzelnd, hätten zunächst keineswegs ausschließlich der Mathematik gegolten. Zwar haben ihn Mathematik-Olympiaden und andere Schülerveranstaltungen der Universität damals sehr beeindruckt, aber als Schüler sei er beispielsweise auch an der Ukrainischen Literatur interessiert gewesen. So mag eine besorgte Lehrerin den Ausschlag für seine Studienentscheidung gegeben haben. Aus Furcht vor damals möglichen Repressalien gegen Künstler und Literaten hielt sie ihn davon ab, Literaturkurse an der Universität zu besuchen. "Und so", resümiert Kovalenko heute, "hat mich meine Lehrerin damals vor solch einem falschen Schritt bewahrt".

urs


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