TU intern - November 1999 - Forschung

Damit der Crash nicht das Ende ist

TU-Wissenschaftler wollen Kindersitze sicherer machen

Reale Unfälle dienen als Vorbild für die Experimente der TU-Wissenschaftler
Zu Reiner Netts Aufgaben gehört es, mit Autohändlern zu feilschen. Ein Online-Dauerabo der "Zweiten Hand" hält ihn dabei auf dem neuesten Stand. Er ist jedoch kein Spezialist für Preise oder PS-Stärken. Vielmehr muss er einen bestimmten PKW-Typ auf dem Berliner Markt ausfindig machen.

Und das gleicht manchmal einer Detektivarbeit, denn Bauart, -jahr und Motorisierung sollen genau den Vorgaben entsprechen. "Die Vorgaben", so der Diplom-Ingenieur vom Institut für Straßen- und Schienenverkehr der TU Berlin, der sich vor allem mit der Sicherheit von Kindersitzen beschäftigt, "liefern reale Unfälle, die wir in unseren Laborräumen an der Gustav-Meyer-Allee detailgetreu nachstellen." Zwar hat sich die Zahl der Unfalltoten in der Altersgruppe bis zu zwölf Jahren seit der Pflichteinführung der Sitze verringert, doch aktuelle Zahlen alarmieren immer noch: Jährlich werden weiterhin zirka 16000 Kinder als Beifahrer bei PKW-Unfällen verletzt, und im vergangenen Jahr 130 von ihnen getötet. Auch nach sechs Jahren der Sicherungspflicht gibt es also erheblichen Klärungsbedarf über die Wirkung dieser verschiedenartigen Rückhalteeinrichtungen.

Reiner Nett und zwei studentische Mitarbeiter prüfen sie im Verbund mit Partnern aus sechs europäischen Ländern sowie der Bundesanstalt für Straßenwesen. Seit 1996 haben sie sich in dem Projekt CREST (Child Restraint Standards) zusammengeschlossen.

"Leider gibt es nur minimale gesetzliche Bestimmungen, wie Kinder in Autos gesichert werden sollen", beschreibt der TU-Projektleiter die Problemlage, "außerdem sind die Daten, die über die Belastbarkeit des kindlichen Körpers eine verlässliche Aussage machen, sehr gering." Zwar müssen die handelsüblichen Modelle einer Standardprüfung unterzogen werden. Die Beeinträchtigung beispielsweise durch einen Seitenaufprall oder die Belastungen im Halsbereich werden jedoch nicht geprüft.

Um ihrem Ziel näher zu kommen, Empfehlungen und Richtlinien für Hersteller sowie Gesetzgeber aufzustellen, haben sich die Wissenschaftler in vier Arbeitsgruppen aufgeteilt. Renault und die Medizinische Hochschule Hannover beispielsweise sammeln die Daten von Unfällen in Frankreich, Italien, England und Deutschland, bei denen Kinder verletzt oder getötet wurden. Alle ermittelten Parameter werden in eine Datenbank gespeist, die momentan 400 Autocrashs dokumentiert.

Daten über die Belastbarkeit des kindlichen Körpers sind nur in geringer Menge vorhanden
SENSOREN AN 32 MESSSTELLEN

In der zweiten Arbeitsgruppe, und da kommen nun die Berliner zum Zuge, werden die Unfälle experimentell nachgefahren. Der Realität so nah wie möglich zu kommen ist dabei das erklärte Ziel. Beispielsweise ermitteln die Sensoren im Autoraum die Beschleunigung, die nach dem Aufprall auf Karosserie und Insassen wirkt. Eine Größe also, die nur im Experiment gemessen werden kann und Rückschlüsse für die Konstruktion von Kindersitzen erlaubt.

Neuartige Dummies, die wiederum von Wissenschaftlern der dritten Arbeitsgruppe entwickelt wurden, finden ebenfalls Verwendung. Sie werden an maximal 32 Messstellen mit Sensoren bestückt. "Gerade für Kopf und Nacken fehlen uns verlässliche Daten, wie Kinderkörper in diesem sensiblen und ungeschützten Bereich auf physikalische Kräfte reagieren", berichtet Projektleiter Reiner Nett. Die Dummies verfügen auch über flexible Gelenke und besitzen einen Oberkörper, der mit fleischähnlichem Schaum und einer künstlichen Haut überzogen ist. "Wir müssen auf dieses Verfahren zurückgreifen, da Experimente beispielsweise an Kinderleichen ethische Fragen aufwerfen würden", so Reiner Nett.

Der reale Unfall wird im Labor experimentell nachgestellt. Dabei ermitteln Sensoren im Fahrzeuginneren, welche Kräfte auf Insassen und Karosserie des Autos wirken
Am Ende des Jahres werden die Wissenschaftler 45 Realunfälle nachgefahren haben. Die experimentellen Ergebnisse finden in digitaler Form Eingang in eine weitere Datenbank. Sie wird zum Abschluss des Projektes 250 Versuche mit ca. 2000 Abbildungen sowie 10000 Messdiagrammen dokumentieren. Fest steht schon jetzt: Die sichersten Sitze sind diejenigen, die das Kind mit dem Rücken zur Fahrtrichtung sichern. "Diese können bei Babys bis zu zwei Jahren eingesetzt werden. Bei den dann folgenden Kindersitzen mit Blick in Fahrtrichtung erhöht sich das Risiko", so Reiner Nett. Auch eine einfache und flache Sitzauflage stellt eine Gefahr vor allem für den Bauchbereich dar, "denn die Gurte rutschen durch die Aufprallkräfte in den ungeschützten Nabelbereich und können dort erhebliche Verletzungen verursachen."

Forschungsbedarf gibt es vor allem auch bei der Frage der Kopfsicherung. Ein weiteres Problem, die Einwirkungen eines Seitenaufpralls, wird mittlerweile in einem neuen TU-Forschungsprojekt ermittelt.

Mitte nächsten Jahres wird das CREST-Projekt abgeschlossen sein. Dann soll auch die vierte Arbeitsgruppe Empfehlungen für Kindersitze formuliert haben. Anschließend wollen die CREST-Wissenschaftler die Umsetzung der Ergebnisse an einem Prototyp exemplarisch aufzeigen.

Stefanie Terp

Informationen: Prof. Dr.-Ing. em. H. Appel, Dipl.-Ing. Reiner Nett, TU Berlin, ISS-Fahrzeugtechnik, Gustav-Meyer-Allee 25, 13355 Berlin.

Internet: http://www.tu-berlin.de/fb10/ISS/FG7/broschuere/projekte/crs/neu.htm


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