TU intern - November 1999 - Aktuelles

Das neue Credo: "Keine Rechte ohne Verantwortung"

Anthony Giddens hielt die Queen's Lecture 1999

Ein besseres Erziehungssystem, flexiblere Arbeitsverhältnisse und Umverteilung der Einkommen sollen nach Anthony Giddens Wegbereiter für den neuen Sozialstaat sein

Oskar Lafontaine hält ihn für einen Holzweg und Gerhard Schröder kennt nicht einmal den ersten und den zweiten Weg. Was hat es also auf sich mit dem Schlagwort, das seit dem Schröder/Blair-Papier in aller Munde ist. Und was ist neu am Konzept des Dritten Weges?

Anthony Giddens, Direktor der London School of Economics und wichtiger Ideengeber der neuen britischen Sozialdemokratie, brachte auf der diesjährigen Queen's Lecture vor über 1000 Gästen in der TU Berlin Licht in die verworrene Debatte. Für ihn, so Giddens, sei der dritte Weg vor allem "ein radikaler Bruch mit allen überkommenen Doktrinen" und "eine notwendige Modernisierung der Sozialdemokratie". Notwendig sei diese Modernisierung aufgrund der dramatischen Änderungen in allen Bereichen unserer Gesellschaft. "Wer heute über Politik spricht, muss über Veränderung sprechen", betonte Giddens. Als wichtigsten Faktor nannte er die Globalisierung. Er plädierte zwar für eine positive Einstellung gegenüber der Internationalisierung, aber auch für eine aktive politische Anwort und Regulierung der globalen Märkte. Ein zweiter wichtiger Punkt sei der technologische Wandel, der mit seinen neuen Informationstechnologien und Kommunikationsformen zu einer Veränderung der gesellschaftlichen Klassen und der Wirtschaft führe. So sieht Giddens die Zukunft nicht in der Dienstleistungs-, sondern in der Wissensgesellschaft. Dritter und letzter Bereich des Wandels seien Familie und Ehe, in denen ein neues gleichberechtigtes Verhältnis zwischen Arbeit und Familie gefunden werden müsse. Welche Strategien bietet nun eine Politik des dritten Weges an, um auf die Veränderungen zu reagieren? Für Giddens geht es in erster Linie darum, traditionelle "Werte links der Mitte auf die neue Welt zu übertragen" und damit soziale Gerechtigkeit zu schaffen, "von der niemand ausgeschlossen ist". Um diese Vision zu realisieren, sei zunächst die Unterstützung öffentlicher Institutionen notwendig. Darüber hinaus plädierte er für eine weitere Demokratisierung und eine Dezentralisierung der Macht im Staat, größere Sicherheit durch eine aktive Verbrechensbekämpfung sowie eine profunde Makroökonomie und Steuerpolitik.

Zum eigentlichen Thema seines Vortrags "The Third Way and its Critics" sagte Giddens nur wenig. Zwar betonte er, dass es von Seiten der konservativen Linken Kritik am dritten Weg gäbe, machte jedoch nicht deutlich, worin sie besteht. Stattdessen erläuterte er, wie sich der dritte Weg von der traditionellen Sozialdemokratie unterscheidet: Die traditionelle Linke gefährde mit ihrem Festhalten am Wohlfahrtsstaat die soziale Gerechtigkeit. Im Gegensatz dazu sieht Giddens eine aktivere Konzeption von Risiken und einen neuen Sozialvertrag vor, der für alle - Arme und Reiche, Firmen und Privatpersonen, Politiker und Bürger - gelten solle. Wichtigster Punkt hierbei ist, dass alle, die an dem Vertrag partizipieren, in Zukunft Gegenleistungen erbringen müssten. "Keine Rechte ohne Verantwortung", formulierte Giddens das neue Credo.

Ließ man sich auf die einleuchtenden Argumente von Anthony Giddens ein, entstand der Eindruck, dass der Weg zu einer neuen und gerechten Sozialdemokratie einfach und geradlinig verläuft. Wie steinig und unübersichtlich er in der Realität aber ist und wie viele Nebenstrecken es gibt, zeigen die gegenwärtigen Entwicklungen in Frankreich, Großbritannien und Deutschland.

Mirjam Schmidt


© 11/'99 TU-Pressestelle