TU intern - November 1999 - Jubiläum
Ein Blick zurück - Ein Bericht über die Technische Universität Berlin aus dem Jahre 2015Vortrag anlässlich der Festveranstaltung "100 Jahre Promotionsrecht - 200 Jahre Bauakademie" an der Technischen Universität Berlin am 15. Oktober 1999
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ein Blick zurück ist einem Jubiläum angemessen, auch wenn er in einer ungewohnten Weise kommt. Hören wir also den - natürlich fiktiven - Bericht der Präsidentin oder des Präsidenten der TU Berlin vor der Hauptversammlung der gemeinnützigen Aktiengesellschaft Technische Universität Berlin im November des Jahres 2015 vor 2500 von den insgesamt 6000 Aktionären; allesamt entweder Alumni, Studierende und Mitarbeiter oder Vertreter von Partnerunternehmen der TU Berlin. Ich zitiere aus diesem Bericht: "Im kommenden Jahr feiert die Technische Universität Berlin den 70. Jahrestag ihrer Wiederbegründung nach dem Zweiten Weltkrieg, ein guter Grund, zurückzublicken und zu fragen, wo wir heute stehen. Eine gravierende Veränderung erlebte unsere Universität Anfang der 70er Jahre des letzten Jahrhunderts, als eine weitreichende politisch-bürokratische Mitbestimmung eingeführt wurde und gleichzeitig die Universitäten für den Massenansturm der immer größeren Schar von Studierwilligen bis an die Grenzen der Überlast geöffnet wurden. Das Ergebnis war ein erheblicher Qualitätsverlust in der Lehre und auch in der Forschung, die bis in unser jetziges Jahrhundert nachwirkte. Eine Wende dieser Entwicklung wurde erst Ende der 90er Jahre des vergangenen Jahrhunderts durch zwei Umstände ausgelöst: Zum einen geriet der Staat in so große finanzielle Probleme, dass er die Hochschulausbildung nicht mehr in dem benötigten Umfang finanzieren konnte. Zum anderen drohten die besten Studierenden und die besten Wissenschaftler ins Ausland abzuwandern. Unter diesem Druck lockerten Bund und Länder schon Ende der 90er Jahre die Restriktionen, die die Hochschulen durch behördliche Fachaufsicht und korsettartige Vorschriften des Dienst- und Haushaltsrechts bis dahin hinderten, sich selbst an die neuen Rahmenbedingungen anzupassen. Dies betraf insbesondere den steigenden weltweiten Wettbewerb bei der Wissensproduktion und Wissensverbreitung. Wir können heute stolz darauf sein, dass die Technische Universität Berlin die neuen Möglichkeiten schnell und entschieden nutzte. BUDGETIERUNG UND AUTONOMIE Die Älteren unter uns werden sich vielleicht noch daran erinnern, dass der Reformprozess anfangs heiß umkämpft war. Klar vorauszusehen waren die Folgen der getroffenen Entscheidungen damals nicht. Aber man war optimistisch. Zu Recht, wie wir aus heutiger Sicht feststellen können. Ende des letzten Jahrhunderts wurde die Entscheidung getroffen, aus den seinerzeit 15 Fachbereichen 8 Fakultäten zu bilden. Dies war eine wesentliche Voraussetzung zur Dezentralisierung von bisher schwerfällig und nicht selten fachfremd auf zentraler Ebene gefällten Entscheidungen. Die Einführung der Budgetierung stärkte die Autonomie der neugebildeten Einheiten. Die Verantwortlichen und Fachleute vor Ort konnten nun selbst entscheiden, wo und wie sie ihre Mittel einsetzten. Von Universitätsleitung und Fakultäten gemeinsam beschlossene Zielvereinbarungen verhinderten "Wildwuchs" und definierten klar die Rechte und Pflichten der Partner. Eine - ungeplante - Folge dieser Dezentralisierung ist die Tatsache, dass durch die Kompetenzverlagerung die Arbeitsplätze erheblich an Attraktivität gewannen und traditionelle Feindbilder zwischen Wissenschaftlern und Verwaltern verblassten. Die Motivation der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter stieg stark an und trug erheblich dazu bei, dass Kundenorientierung und Servicegedanke heute selbstverständlich sind. Besonders stolz waren die Reformer darauf, dass sie trotz teilweise bedrohlicher finanzieller Engpässe - aber eben mit ungeplanten Nebeneffekten wie starker Motivationssteigerung - diese Veränderungen ohne Kündigungen durchsetzen konnten. Dazu trug ein neugeschaffenes Personalentwicklungsprogramm ebenso bei wie die erhebliche Flexibilität der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Die Dezentralisierung der Entscheidungskompetenzen und der Universitätsverwaltung hat sich ausgezahlt. Denn dadurch wurden Entscheidungswege wesentlich verkürzt und klare Verantwortlichkeiten geschaffen. Die Dekane sind in ihre gewachsene Verantwortung eingetreten und zu Managern ihrer Fakultäten geworden. Zusammen mit ihren Fakultäts-Service-Teams haben sie die Wissenschaftler und Dozenten von lästigen Verwaltungstätigkeiten weitestgehend befreit. Sie beobachten die Märkte für Forschung und Lehre für ihre Disziplinen und geben systematisch Anstöße zur Steigerung des Fakultätserfolgs. Seit der Reform des Besoldungs- und Dienstrechts im Jahre 2001 haben sie auch die Möglichkeit, innerhalb bestimmter Grenzen besondere Leistungen von Fakultätsangehörigen gehaltswirksam werden zu lassen. Im Vordergrund ihres Interesses stehen die Grundlagenforschung und die Studierenden. Denn beides ist für die Höhe des Fakultätsbudgets entscheidend. Deshalb sind auch der von allen promovierten Wissenschaftlern gewählte Fakultätsbeauftragte für die Forschung und der von den Studierenden gewählte Fakultätsbeauftragte für die Lehre die wichtigsten Berater des Dekans. MULTIDISZIPLINÄRE AUSBILDUNG Wie kaum eine andere Maßnahme trug die im Jahre 2001 beschlossene, generelle Reform aller Studiengänge in der Technischen Universität Berlin zu ihrem Erfolg bei. Sie erwuchs aus der Erkenntnis, dass spezialisierte Fachstudiengänge immer weniger den Ausbildungsbedürfnissen der künftigen Absolventen und den Qualifikationsanforderungen wachsender Unternehmen entsprachen. Mehr und mehr musste das Studium die Grundlage sein, von dem aus - unter Umständen auch im Wege der gezielten Nachschulung während der Berufskarriere - sich die unterschiedlichsten Berufe erschließen ließen. Das setzte eine wirklich multidisziplinäre Ausbildung voraus. Modell für die grundständige Ausbildung stand das Studium Generale, die Inhalte - Grundlagen der Naturwissenschaften, Wissenschaftstheorie und Philosophie, Sprachen und Grundlagen der Sozialwissenschaften - wurden allerdings umfassend systematisiert. Erst danach entscheiden die Studierenden, welches Fachstudium sie anstreben. Nach 4 Jahren können sie entweder als Bachelor die Universität verlassen - oder weitermachen bis zum Master. Die Masterausbildung dafür findet zum größeren Teil in der Forschung statt. Das Modell war zunächst außerordentlich umstritten. Befürchtet wurde insbesondere, dass die fachliche Qualifikation im engeren Sinne bei einer derartigen Ausbildung zu kurz komme und der so gestaltete Bachelor keinen Anklang in der Praxis fände. Für die Vehemenz, mit der die Bedenken geäußert wurden, spielte sicher auch die Befürchtung der Fakultäten eine Rolle, sie müssten eine erneute Kürzung ihrer fachlichen Kapazitäten hinnehmen. Als sich dann zeigte, dass die Wirtschaft eine solche, generalistischere Variante der universitären Ausbildung durchaus schätzt, stieg die Akzeptanz für dieses Modell. Deutliche Mehrheiten für diese Neuerung fanden sich schließlich auch dadurch, dass der Rationalisierungseffekt dieser neuen Studienorganisation vor allem zur Verbesserung der Betreuungsrelationen eingesetzt wurde. Gleichzeitig wurde ein Mentorenmodell für alle Studierenden eingeführt. Inzwischen hat sich die TU Berlin mit ihrem Studienmodell eine bedeutende Position im Markt für akademische Erstausbildung erobert. INTERDISZIPLINÄRE FORSCHUNG Von gleichem Gewicht und gleicher Wirksamkeit für den Erfolg der TU Berlin war die bereits 1998 beschlossene Profilierung der Universität in großen, interdisziplinären Forschungsschwerpunkten. Ziel dieser Reformmaßnahme war es, in jedem einzelnen dieser Forschungsschwerpunkte eine derartige Exzellenz zu erzeugen, dass die TU Berlin auf dem jeweiligen Gebiet zumindest unter die ersten 10 Adressen weltweit zu rechnen wäre. Der Ausbau dieser Forschungsschwerpunkte hatte zunächst vor allem unter der beträchtlichen Mittelbindung durch den großen Personalüberhang gelitten, der sich aus den dramatischen Kürzungsaktionen des Berliner Senats in den 90er Jahren des vergangenen Jahrhunderts ergeben hatte. Erst als dieser Überhang nach dem Jahre 2007 deutlich zusammengeschmolzen war, standen die Mittel für einen energischeren Aufbau der profilbildenden Schwerpunkte zur Verfügung. Die Ergebnisse dieser Bemühungen haben sich beispielsweise an den Schwerpunkten "Wasser", "Verkehrssystemtechnik", "Miniaturisierungs- und Mikrosystemtechnik", "Biotechnologie", "Sanierung historischer Innenstädte" oder "Medizintechnik" gezeigt, die sich inzwischen nicht nur wachsender Umsätze, sondern auch einer weltweiten Bekanntheit erfreuen. Es erwies sich als besonders günstig, dass die Forschungsschwerpunkte von vornherein in Partnerschaft mit einer Reihe größerer, aber auch mittlerer und kleiner Unternehmen aufgebaut wurden, die auf dem jeweiligen Gebiet besondere Fähigkeiten und Interessen hatten. Auf diese Weise waren nicht nur Drittmittel und größere Investitionen, die von allen genutzt werden konnten, sichergestellt. Für den Erfolg entscheidender war die damit vorhandene Möglichkeit, unmittelbar und weltweit gemeinsame Leistungen bei der Vorbereitung und Durchführung größerer Projekte anzubieten. So ist die TU Berlin zunehmend erfolgreich bei der Akquisition großer technologie- und entwicklungspolitischer Forschungsvorhaben. Auch bei der weltweiten Privatisierung infrastruktureller Dienstleistungen wie z.B. im Verkehr, bei der Wasserversorgung und Abwasserreinigung, in der Energieversorgung, der Telekommunikation und im Gesundheitswesen brachte das gemeinsame Potenzial Wettbewerbsvorteile. MANAGER LEHREN AN DER TU BERLIN Auch das Partnerschaftsmodell wurde anfänglich sehr kritisch diskutiert, insbesondere im Hinblick auf die damit befürchteten Abhängigkeiten von großen Konzernen. Bedenken bestanden auch auf Seiten der Industrie, die einen unerwünschten Know-how-Verlust durch Verlagerung eines nicht unerheblichen Teils ihrer Eigenforschung in die Universität befürchtete. Im Laufe der Zeit freilich nahmen die kritischen Bedenken auf beiden Seiten ab. Inzwischen unterrichten Manager der TU-Partnerunternehmen in Seminaren an der TU. Teams aus Studierenden der Abschlusssemester bereiten im Rahmen ihrer Studien- und Diplomarbeiten Entscheidungen in den Partnerunternehmen vor. Und viele von ihnen kommen mit Arbeitsverträgen zurück. Die Partnerunternehmen schicken ihrerseits Absolventen nach einer gewissen Berufspraxis zur gezielten Weiterbildung an die TU zurück. Forschungsteams aus den Unternehmen arbeiten für bestimmte Zeit in den Räumen der TU mit Grundlagenforschern, aber auch mit den TU-Spin-off-Unternehmen zusammen, um die eigenen Entwicklungsprobleme besser lösen zu können. Hochschullehrer und wissenschaftliche Mitarbeiter forschen für begrenzte Zeiträume in Partnerunternehmen. Bevor der Weg für ein neues Finanzierungssystem der Berliner Hochschulen freigemacht wurde, war im Jahre 2002 die außerordentlich umkämpfte Entscheidung gefallen, Studiengebühren an den Berliner Hochschulen zuzulassen. Die Politik hatte zuvor garantiert, dass der Erlös aus den Studiengebühren nicht vom staatlichen Budget abgezogen werden würde. Befürchtungen, dass Studiengebühren die Chancengleichheit in Frage stellen bzw. beseitigen könnten, haben sich nicht bewahrheitet. Im Gegenteil: Die gefundene Lösung hat sich als sozialverträglich erwiesen. Jede Bewerberin und jeder Bewerber, die die Zulassungsprüfung zu einer Berliner Hochschule bestanden haben, bekommt ein Darlehen für Studiengebühren und Lebenshaltungskosten angeboten. Die Rückzahlung dieses Darlehens ist abhängig vom späteren Lebenseinkommen der Absolventen. Das Modell wurde zunächst als Pilotversuch in Berlin und Niedersachsen gestartet. Bereits ein Jahr später schlossen sich alle neuen Bundesländer diesem Experiment an. Seit dem Jahre 2010 wird die Lösung bundesweit praktiziert. Das im Jahre 2005 vereinigte Land Berlin-Brandenburg ging in einer richtungsweisenden Entscheidung im Jahre 2010 bei der Finanzierung seiner Hochschulen noch einen Schritt weiter. Seitdem erhalten die Hochschulen den Staatszuschuss als prozentualen Zuschlag auf die von ihnen selbst in Forschung und Lehre eingeworbenen Budgets. Ausschlaggebend für die Höhe des Zuschlags sind insbesondere die Leistung der Hochschulen in der Grundlagenforschung, die - extern evaluierte - Qualität der Lehre und die Absolventenquote. Damit war auch auf der Finanzseite klargestellt, dass die Hochschulen selbst für ihren Erfolg verantwortlich sind. Sie bedurften nicht mehr des Staates als Träger. Der wichtigste Erfolgsfaktor allerdings blieb bislang unbenannt. Es ist das im Zuge der Reformbewegung gewachsene Wir-Verständnis aller TU-Angehörigen, aus dem gemeinsame Kraftanstrengungen erwuchsen. Dies Verständnis half nicht nur, alte Gräben zwischen Statusgruppen oder politischen Fraktionierungen zu überwinden und damit alte Entscheidungsblockaden zu entschärfen. Es ist auch die Basis für das vertrauensvolle Klima, das die TU Berlin mit einer hohen Attraktivität ausstattet. Ich bin stolz, dass der Anteil der Universitätsangehörigen, die gerne an der TU Berlin studieren oder arbeiten, in der Repräsentativumfrage dieses Jahres einen neuen Spitzenwert von 89 % erreicht hat." Ich möchte an dieser Stelle den Bericht aus der Zukunft enden lassen. Ich gäbe viel dafür, wenn eine künftige Präsidentin oder ein künftiger Präsident der TU Berlin im Jahr 2015 zu einem solchen - oder ähnlichen - Bericht über die Veränderungen unserer Universität Anlass hätte. 200 Jahre Bauakademie, 120 Jahre Technische Hochschule Charlottenburg, 100 Jahre Promotionsrecht für die Technischen Hochschulen und schließlich 53 Jahre Technische Universität Berlin sind uns eine Verpflichtung, nicht nur für die Ausbildung von Ingenieuren, sondern auch hinsichtlich der Bereitstellung von neuem technischen Wissen. Eine Verpflichtung, der wir uns zum Wohle der Gesellschaft auch im beginnenden Jahrtausend werden stellen müssen. Wenn wir erfolgreich sein wollen, brauchen wir eine Vision. Sie muss nicht genauso aussehen wie eben skizziert. Vielleicht reizt Sie das eine oder andere daran zu Widerspruch - oder Sie spinnen die Fäden fort. Für mich wäre es der größte Erfolg, wenn ich heute Ihre Fantasie in dieser Richtung angestoßen hätte. Sie alle, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter dieser Universität, Unternehmer, Gewerkschafter, Politiker, Journalisten und natürlich das wertvollste Kapital unserer Universität: die Studierenden, Sie alle können dazu beitragen, dass die TU Berlin auch im nächsten Jahrhundert ein lebendiger Ort wird.
Hans-Jürgern Ewers, © 11/'99 TU-Pressestelle |