TU intern - November 1999 - Aktuelles
Zwischen Neoliberalismus und Sozialismus - Kritische Anmerkungen zum Dritten Weg
Wer Sympathie für die europäische Linke hat, kommt heute an Anthony Giddens nicht vorbei. Er gilt nicht nur in seinem Heimatland als führender Soziologe, sondern er scheut sich auch nicht, die Rolle des Chefberaters von Premier Tony Blair zu übernehmen und so den Eintritt in die Politik zu wagen. Blair sieht sich im Streit der Ideen in der verqueren Position, als Neoliberaler im Pelz der Sozialisten angeklagt zu werden, werfen ihm doch nicht nur Gegner, sondern auch Parteifreunde vor, den Pfad, den einst Margret Thatcher in England eingeschlagen habe, weiter zu verfolgen. Giddens eilt ihm zur Hilfe. Sein Schlag- und Stichwort ist der "Dritte Weg", der irgendwo auf schmalem Grad zwischen dem Absturz in den Neoliberalismus und dem Abgleiten in die Sozialdemokratie vergangener Provenienz verlaufen soll. So gesehen gehört Giddens zur Gruppe der linken Reformer. Wer ein Drittes will, muss - nicht unähnlich der Marxschen dialektischen Synthese - eine neue Welt vor dem geistigen Auge seiner Mitmenschen entstehen lassen. Allerdings entwirft Giddens diese, sich wohltuend vom Glauben an historische Gesetze absetzend, nicht als weitere Utopie, sondern er bemüht sich vom Hier und Heute ausgehend Schritte für die nahe Zukunft zu entwickeln. Es liegt auf der Hand, dass der "Neoliberalismus" für Giddens keine Alternative ist. In Unkenntnis der großen historischen Leistungen neoliberaler Denker im westlichen Nachkriegseuropa, aber im Einklang mit der Verballhornung dieser Denkrichtung als Unternehmen des "Marktfundamentalismus", meint er, eine rein neoliberale Welt sei nicht lebensfähig. Sieht man von einigen Anarcho-Liberalen ab, die alle Probleme menschlichen Zusammenlebens durch private Verträge auf freien Märkten lösen wollen, so würden Hayek, Röpke, Einaudi, Müller-Armack und viele andere ihm hier bereitwillig zustimmen. Eine freie Gesellschaft ist mehr als Markt und Wettbewerb. Freundlicher ist Giddens' Kritik der alten Sozialdemokratie. Sofern diese sich nicht von ihren historischen Wurzeln und der überkommenen wohlfahrtsstaatlichen Politik wenigstens teilweise gelöst habe, soll sie auf den neuen dritten Weg geführt werden. Dabei geht es Giddens unter gelegentlicher Akzeptanz "rechter" Argumente um die "Erneuerung der sozialen Demokratie", wie es im Untertitel seines Buches heißt. Wie aber soll das neue Konzept aussehen? Vieles gehört zu den Ubiquitäten, die heute in jedem demokratischen Parteiprogramm zu finden sind. Empfohlen wird soziale Gerechtigkeit, Gleichheit, Schutz der Schwachen, Kosmopolitismus im Gewande eines neuen Nationalstaates, individuelle Autonomie, Schutz der Umwelt, Gleichberechtigung der Geschlechter, Verzicht auf Fremdenfeindlichkeit und die Reform des Wohlfahrtsstaates. Das führt zur Frage nach dem Spezifikum der Dritte-Wege-Politik, wenn man nicht resignierend behaupten will, dass wir alle Sozialdemokraten seien. Giddens' Antwort ist eine haarspalterische Unterscheidung. Der Dritte Weg soll nicht in der Mitte zwischen altem Sozialismus und neuem Liberalismus angesiedelt sein, sondern er präsentiert sich als Mitte-links Veranstaltung. Was aber ist deren Essenz? Ein paternalistischer Wohlfahrtsstaat - wie gehabt! So soll der Staat - was immer darunter zu verstehen ist - eine Vielzahl öffentlicher Güter einschließlich kollektiver Sicherheit und Wohlfahrt zur Verfügung stellen, im öffentlichen Interesse in die Märkte eingreifen oder die menschliche Kreativität durch seine Schlüsselstellung im Erziehungs- und Bildungswesen fördern. Die Botschaft, dass gerade der Staat, der stets das Gute will und oft das Schlechte schafft, das Problem unserer Zeit ist, überhört Giddens. Am Ende des dritten Weges aber soll ein neuer demokratischer Staat stehen, dessen Funktionsregeln im Dunkeln bleiben. Zu allen Fragen, die Giddens anschneidet, gibt es mittlerweile umfangreiche, oft gut durchdachte Analysen. So gesehen hat die öffentliche Diskussion Giddens' Programm schon längst überrollt. Die Zahl der praktikablen Optionen ist groß und ihre Kombinationsmöglichkeiten sind vielfältig. Gleichwohl, Giddens' Absicht, jenen, die in allen Parteien vergangenen Denkmustern anhängen, Denkanstöße zu geben, verdient Respekt. Blairs Politik war bisher nicht zum Nachteil Britanniens.
Christian Watrin © 11/'99 TU-Pressestelle |