TU intern - Oktober 1999 - Vermischtes

Würden Sie Ihren Hund verspeisen?

Über Kühe, Milch und das Leben in Indien

Besuch aus Indien hat zur Zeit die Arbeitsgruppe von Professor Krenkel am Institut für Lebensmitteltechnologie II der TU Berlin. Seit Mai dieses Jahres ist Dr. Bikash C. Ghosh vom "National Dairy Research Institute" in Bangalore zu Gast. Er folgt damit einer Einladung der Alexander von Humboldt-Stiftung. Das Interesse des Forschers gilt, ebenso wie das seiner deutschen Gastgeber, dem Thema Milch. Bikash Ghosh beschäftigt sich unter anderem mit der Frage, wie Enzyme milchsäureproduzierender Bakterien den Fermentationsprozess bei der Käsereifung beeinflussen. Der Modifizierung solcher Fermentationsprozesse gilt auch das Interesse der Arbeitsgruppe um Professor Krenkel. Was lag da näher, als das gemeinsame wissenschaftliche Interesse um kulturell-soziologische Aspekte zu erweitern. Denn Milch und besonders deren Quelle, die Kuh, nehmen in Indien einen ganz besonderen Stellenwert ein. Bikash Ghosh erklärt:

Der Begriff der "heiligen Kuh" ist seit Urzeiten ein Teil des indischen Ethos innerhalb der Hindu-Religion. Die Kuh bietet in vielerlei Hinsicht eine Reihe großartiger Vorteile. Sie ist für das Überleben der Ärmsten in den ländlichen Regionen außerordentlich bedeutsam. Selbst wenn man von der Milch und der Nutzung der Kuh als Zugtier in der Landwirtschaft absieht, erfüllt das Rind gewissermaßen die Funktion einer mobilen chemischen und thermalen Produktionsstätte: Kot dient als organisches Düngemittel oder nach dem Trocknen als billiger Brennstoff. Aus Kuhmist wird Methan gewonnen, das zum Kochen oder zur Beleuchtung eingesetzt wird.

INDISCHE TRAKTOREN

Die totale Effizienz, mit der die Produkte einer Kuh genutzt werden, ist in Indien hoch. Sie beträgt 17 Prozent, während sie beispielsweise beim amerikanischen Rind nur auf vier Prozent geschätzt wird. Dies liegt nicht an einer außergewöhnlichen Produktivität indischer Rinder, sondern an der optimalen Nutzung aller Produkte. Die Zahl der Kühe in Indien wird auf 57 Millionen beziffert.

Die Vorstellung von der Heiligkeit der Kuh in Indien umfasst verschiedene Gedanken. Da ist zunächst die Nützlichkeit in der landwirtschaftlichen Ökonomie. In Indien werden Rinder seit Urzeiten bis in die Gegenwart in der Bauernwirtschaft genutzt. Kühe werden des öfteren scherzhaft als indische Traktoren bezeichnet. Pflügen des Bodens, das Tragen von Gütern und das Befördern der Menschen in Karren sind die häufigsten Aufgaben, die Rinder zu verrichten haben.

Das Fleisch dieser Spezies ist nicht im Ernährungskonzept der Hindus enthalten, da das Rind ihr größter Helfer bei der Nutzung der Landwirtschaft ist. Im Gegensatz dazu schließen indische Ernährungsgewohnheiten einen ausgedehnten Verzehr von Milch und Milchprodukten ein. Kuhmilch wird als Symbol einer wertvollen, ausgewogenen Nahrung betrachtet. Wenn eine Mutter ihr Baby nicht stillen kann, dann rettet die Milch der Kuh das menschliche Leben. Weil Mütter Leben spenden, werden sie von Hindus besonders respektiert und in ihrer Religion als Mutter "Gott" verehrt. Gleiches gilt für die Kuh, die mit ihrer Milch Leben rettet.

AUCH EIN HAUSTIER

Die Milchleistung der Tiere ist in dem heißen und zum Teil auch rauhen indischen Klima sehr niedrig. Sie beträgt im Jahresmittel pro Tier etwa 1200 Liter. In Deutschland liegt die jährliche durchschnittliche Milchleistung bei über 6000 Liter. Um die gesamte im Lande benötigte Milchmenge zu sichern, benötigt Indien eine hohe Zahl an Kühen. Aus indischer Sicht ist auch gegenwärtig der sicherste Weg, Lebewesen zu schützen, sie für heilig zu erklären. Diese Logik ist mit der Hindu-Religion in engem Zusammenhang zu sehen.

Nicht zuletzt ist in Indien die Kuh auch ein Haustier, mit dem die Menschen emotional eng verbunden sind. Sie bekommt den Status eines Familienmitgliedes. Hindus essen ihre Haustiere ebensowenig, wie Menschen in westlichen Ländern ihre Katzen und Hunde verspeisen würden!

Wie wichtig es für einen Hindu ist, die Kuh zu schützen, belegt auch ein kurzer Abriss aus der Mythologie. Der Weise Jamadagni besaß die Kuh Kamadhenu. Sie war eine mystische und wundertätige "Wunschkuh", welche ihm alles gab, was er sich wünschte. Mit ihrer Hilfe konnte er den König und seine große Gesellschaft, die ihn plötzlich und unerwartet besuchte, vorzüglich bewirten. Nachdem der König die überraschenden Qualitäten der Kuh erkannt hatte, stahl er sie. Der Sohn von Jamadagni erfuhr von diesem Diebstahl und entfachte einen Krieg. Tausende Menschen wurden im Kampf getötet, bevor Kamadhenu aus den Klauen des habgierigen Königs befreit wurde. Auch in der heutigen Zeit wird zu bestimmten Festtagen der Kult um die Kuh durch orthodoxe Hindus betrieben.

Das Schlachten einer Kuh wäre eine Handlung, die wie ein Funke das öffentliche Feuer entfachen könnte. Einbringen von Rinderfleisch in einen Hindu-Tempel wäre Grund genug, einen kommunalen Aufruhr zu provozieren.

Übersetzung: Dr. Tadeusz Sienkiewicz


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