TU intern - Oktober 1999 - Forschungskolloquiums

Ost-Muttis und West-Tussis?

Deutsch-deutsche Klischees sind in die Jahre gekommen

Die lebenslang voll berufstätige Ehefrau und Mutter: ein ostdeutsches Klischee
Zunächst kam der große Schreck: Frauen in Ost und West standen sich fremd gegenüber, nachdem die Mauer gefallen war. Viel ist seitdem über die verschiedenen Vorstellungen von Emanzipation und Gleichberechtigung, die unterschiedlichen Sprechweisen, Befindlichkeiten und Identitäten dies- und jenseits der Elbe geschrieben worden.

Wenig Beachtung fand dabei, wie sehr die Leitbilder für Frauen in Ost und West an der Entfremdung teilhatten. Sie sorgten dafür, daß durchaus vorhandene Ähnlichkeiten der alltäglichen Erfahrungen sehr unterschiedlich wahrgenommen und erlebt wurden. So blieb in beiden Teilen Deutschlands die Verantwortung für die Familienarbeit den Frauen überlassen. Allerdings konnten ostdeutsche Frauen auf das Leitbild der lebenslang voll berufstätigen Ehefrau und Mutter und - seit den siebziger Jahren - eine flächendeckende Kinderbetreuung setzen, um Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen. Die Westdeutschen warfen in den sechziger Jahren zwar das Leitbild "Nur-Hausfrau" über Bord und erkoren die teilzeitarbeitende "Zuverdienerin" zum Inbegriff der modernen Republik. Erwerbsarbeit und Familie zu vereinbaren blieb hingegen weitgehend Privatvergnügen.

Ost- und westdeutsche Bilder der Müttererwerbsarbeit spielten zudem eine eminente Rolle in der deutsch-deutschen Rhetorik des Kalten Krieges. Die burschikose Traktoristin etwa, in der DDR der 50er Jahre Sinnbild für technischen Fortschritt und sozialistische Frauenemanzipation, wurde im Westen Deutschlands als sicheres Zeichen für den baldigen "Volkstod" durch die planmäßige kommunistische "Zerstörung der Familie" angesehen. Umgekehrt galt in der DDR die abgehetzte, schlecht ausgebildete und unterbezahlte westdeutsche Familienmutter als das eigentliche Opfer des Kapitalismus. Mit ihr ließ sich die Ausbeutung im westlichen System schlechthin angeprangern. Seit den 70er und 80er Jahren haben diese Bilder beidseitig an Deutungsmacht verloren. Was blieb, war eine weitgehende beiderseitige Unkenntnis der tatsächlichen Lebensumstände. Die Geschlechterforschung in Ost und West hat dieses Defizit im letzten Jahrzehnt gründlich aufgearbeitet. Der Glanz der sozialistischen Success-Story von Gleichstellungspolitik und Emanzipation ist dabei verblasst. Und das Unverständnis gegenüber dem westdeutschen Feminismus ist der Einsicht gewichen, daß das Leben "im Westen" Artikulationsformen erfordert, die man vor zehn Jahren fast mitleidig belächelt hat.

Christine von Oertzen
(Zentrum für Interdisziplinäre Frauen-
und Geschlechterforschung am FB 1)


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