TU intern - Oktober 1999 - Jahr 2000
Von der Angst, die Zeit könne Sprünge machenDas Jahr-2000-Problem aus literarischer Perspektive
Was geschieht, wenn an Silvester die beiden letzten Ziffern der Jahreszahl von 99 auf 00 springen? Diese Frage beschäftigt zur Zeit viele Menschen. Immer wieder werden die verschiedensten Horrorszenarien entworfen. Ursache all dieser Visionen ist die Gefahr, dass die Computer zu dieser Zeit um ein Jahrhundert zurückspringen. Solche Zeitsprung-Ängste sind weder neu noch auf den Zeitraum um einen Jahrtausendwechsel beschränkt, wie Thomas Cramer, Professor am Institut für Deutsche Philologie, allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft, berichtet: Das Jahr-2000-Problem, das Risiko, Großrechner und Personalcomputer könnten zum Jahreswechsel um ein Jahrhundert zurückspringen, ist seit langem bekannt und, wie es scheint, haben die betroffenen Institutionen rechtzeitig und wirksam Vorsorge getroffen. Manche Städte haben gar Bürgertelephone eingerichtet, um beunruhigte Mitmenschen technisch und seelsorgerisch zu betreuen. In seltsamem Widerspruch zu dem gelassenen Umgang mit dem Problem stehen die immer häufiger zu lesenden Schreckensvisionen von der Vernichtung privater Bankkonten, unversehens abstürzenden Flugzeugen oder dem Zusammenbruch der Weltwirtschaft. Die sich in solchen Meldungen abspiegelnden kollektiven Ängste sind rational nicht zu erklären; ein Blick aber in die europäische Bewußtseinsgeschichte, über die vor allem die Literatur Auskunft gibt, lehrt: die Angst, die Zeit könne Sprünge machen, in denen der Einzelne verlorengeht, hat die Menschen in allen Jahrhunderten bedrängt. Denn im Eingriff in den kontinuierlichen Fluss der Zeit manifestierte sich in besonderer Weise die Übermacht oder gar die Willkür eines Gottes, der die Menschen hilflos ausgeliefert sind. Schon Zeus hat den Lauf der Gestirne angehalten zu dem einzigen Zweck, eine Liebesnacht zu verlängern. Viele Geschichten sind über diese Angst erzählt worden, und die Phantasien zum Jahr-2000-Problem sind nur eine Variante dieser Geschichten. SCHLAFENDE JÜNGLINGE Urbild aller Erzählungen ist die spätestens im 5. Jahrhundert entstandene ,Siebenschläfer-Legende', die Geschichte von sieben jungen Männern aus Ephesus, welche die Christenverfolgung des Kaisers Decius in einer Höhle verschlafen und erst nach 327 Jahren wieder erwachen. Im Glauben, nur eine Nacht geschlafen zu haben, kehren sie in die Stadt zurück und werden dort für Verrückte und Betrüger gehalten. Zwar wird durch ein göttliches Dokument die Wahrheit ihrer Aussagen erwiesen, aber sie können sich in der veränderten Umgebung nicht mehr zurechtfinden und Gott schenkt ihnen einen gnädigen Tod. Die mittelalterliche und für mehrere Jahrhunderte maßgebende Version der Zeitsprung-Geschichte hat gegen Ende des 12. Jarhunderts der Zisterziensermönch Caesarius von Heisterbach geschrieben. GRÜBELNDER MÖNCH Ein junger Mönch wandelt, sein Brevier lesend, im Klostergarten und stößt auf den Vers des 90. Psalms, der besagt, tausend Jahre seien vor Gott wie ein Tag. Diese Aussage kommt ihm unglaubwürdig vor und er verfällt in tiefes, zweifelndes Grübeln, bis ihn die Vesperglocke ins Kloster zurückruft. Aber er findet seinen Platz im Chorgestühl von einem Fremden besetzt; keinen der versammelten Klosterbrüder kennt er. Nach seinem Begehr gefragt nennt er seinen Namen und muß erfahren, seit dreihundert Jahren habe im Kloster niemand mehr so geheißen. Er fragt nach seinem Abt und hört, der sei vor dreihundert Jahren gestorben. So erfährt der Mönch am eigenen Leibe die Wahrheit des Psalmenverses, daß Gott die Macht habe, den Lauf der Zeit nach Belieben zu raffen oder zu dehnen, sie in die Vergangenheit oder die Zukunft springen zu lassen. Im Schock dieser Erfahrung sinkt der Mönch tot zu Boden. KOMPETENTE INFORMATIKER Die menschliche Urangst vor Zeitsprüngen, wie sie sich in Verbindung mit dem Jahr-2000-Problem heute wieder artikuliert, hat sich in unserer säkularisierten Gesellschaft in charakteristischer Weise auf die Technik verlagert. Das hat unbestreitbare Vorteile: wir brauchen zur Lösung des Problems nicht mehr die Hilfe eines Gottes, die womöglich nur in einem gnädigen Tod besteht, sondern lediglich die Kompetenz einiger Informatiker. Aber wie stets hat auch dieser Fortschritt seinen Preis: in achthundert Jahren wird gewiß niemand mehr von ihnen erzählen. Thomas Cramer © 10/'99 TU-Pressestelle |