Studierende der TU Berlin produzieren Berichte von Holocaust-Überlebenden für Fernsehen und Hörfunk
"Wenn die letzten Zeitzeugen erst gestorben sind, muss das Wissen sicher in die Hände der Jugend übergeben worden sein", mahnte kürzlich Bundespräsident Johannes Rau. Genau darum bemüht sich Dr. Barbara von der Lühe in der
Ausbildung junger Medienberater und Journalisten an der Technischen Universität Berlin. Die Historikerin und Medienwissenschaftlerin erarbeitet mit Studierenden Methoden der "Oral History", der mündlichen Überlieferung von Erinnerung, für ein Zeitzeugen-Projekt, das in den Studios des Offenen Kanals Berlin produziert wird. Sie haben
dafür Überlebende der Shoah wie Inge Deutschkron, Joseph Weizenbaum und Andrzej Wirth interviewt. Im Sommersemester bearbeiten sie das Rohmaterial fernseh-, hörfunk- und internetgerecht. Für das geplante Buchprojekt suchen sie noch einen geeigneten Verlag.
"Mir war es vor allem wichtig, die jungen Leute für den empfindsamen Umgang mit den Zeitzeugen zu sensibilisieren", erläutert Barbara von der Lühe, "denn was mit Claude Lanzmanns er-schütterndem Film ‚Shoah' begann, hat sich in der Zwischenzeit in Richtung ‚Histotainment'
entwickelt: Spektakulär aufgemachte TV-Sendereihen präsentieren die Aussagen von Tätern und Opfern heute oft nach einer reißerischen Dramaturgie. Mit Recht wittern Kritiker wie Henryk M. Broder hier die Instrumentalisierung jüdischer Zeitzeugen nach dem Motto ‚Rent a Jew'". Durch private Kontakte war es Barbara von der Lühe gelungen, prominente Zeitzeugen für ihr Projekt zu gewinnen. So ließen sich der Komponist Josef Tal und die Publizistin Inge Deutschkron
interviewen, der Computer-Pionier Joseph Weizenbaum, der Literaturwissenschaftler Andrzej Wirth, der Schriftsteller Jochanan Trilse-Finkelstein, der Pädagoge Jizhak Schwersenz und der Vorsitzende des Zentralrates der Sinti und Roma in Deutschland, Otto Rosenberg. Finanzielle Förderung
erhielt die Veranstaltung durch die Ernst-Strassmann-Stiftung in der Friedrich-Ebert-Stiftung, Bonn.
Bevor es ins Studio ging, mussten die Studierenden Einiges zum Thema "Oral History" lernen. "Für die historische Aufarbeitung der Shoah bedeuten mündliche und schriftliche Zeitzeugenberichte eine unverzichtbare Ergänzung zu den einseitigen Quellen, die Nationalsozialisten
hinterlassen haben", erläutert Dr. von der Lühe. "Das Besondere an videographierten Zeitzeugenberichten sind die körperliche Präsenz der Erzählenden, ihre Gestik und Mimik. Das sind Faktoren, die dem mündlichen Bericht eine einfühlsame Dimension hinzufügen. Historisches Lernen wird damit gleichzeitig zu sozialem Lernen."
Interviewt, gedreht und aufgenommen wurde in den Studios des Kooperationspartners "
Offener Kanal Berlin" (OKB) in Berlin Wedding. Der OKB gehört zur Medienanstalt Berlin Brandenburg und wird aus Rundfunkgebühren finanziert. Er stellt kostenlos Studioeinrichtungen und
Sendeplätze für Hörfunk-, TV- und Online-Produktionen zur Verfügung. Bevor die Interviewpartner eintrafen, wies eine Mitarbeiterin des Senders die mehr als 50 Teilnehmer mehrere Stunden lang in das Handwerk ein: Studioaufbau, Licht- und Tontechnik, Kameraführung und Bildschnitt. Der
Begegnung mit "ihren" Zeitzeugen sahen viele Studenten zunächst etwas beklommen entgegen. Im Vorfeld hatten die studentischen Teilnehmer vielfältige Motive für ihre Mitarbeit geäußert: Da war der Wunsch, mit der multimedialen Publikation Zeichen gegen Antisemitismus und Rassismus in Deutschland zu setzen. Anderen bot das Seminar Anlass, sich intensiv auch mit der Shoah in ihren Familien auseinander zu setzen. Viele, so von der Lühe, hätten damit erst im Zusammenhang mit dem TU-Projekt begonnen. Einige der
Teilnehmerinnen und Teilnehmer kämen aus Familien, deren Mitglieder selbst Opfer der Shoah sind. Andere aus türkischen, libanesischen, griechischen, russischen und polnischen Familien hatten sogar eigene Erfahrungen mit rassistischen und rechtsradikalen Angriffen. "Unsere Zeitzeugen haben sich dann recht weit den Studenten geöffnet", stellt Barbara von der Lühe fest.
Nicht nur die Jahre 1933 bis 1945 seien von den Studierenden in den Blick genommen worden, sondern auch die Zeit vor der Verfolgung und nach 1945 bis in die Gegenwart. Nur, wenn man die Zerstörung der gesamten Lebenswelt, die traumatischen Folgen für den einzelnen Menschen beleuchte, sei das ganze Ausmaß der Verbrechen der Nationalsozialisten verstehbar. Mit ihrem crossmedialen Unterrichts-Experiment möchte Dr. von der Lühe die künftigen Medienberater und Journalisten in die Lage versetzen, die Oral-History-Methode verantwortungsvoll in ihren AV-Produktionen einzusetzen. Herausgekommen sind sensible Interviews mit offenen Zeitzeugen, deren Ausstrahlung für den Herbst 2001 vorgesehen ist. Die Website soll ebenfalls im Herbst ins Netz gehen und auch die
Buchpublikation ist noch für dieses Jahr geplant.
Patricia Pätzold-Algner