TU intern - Erstsemester-Special WS 2000/2001 - Science & Fiction

Sciencefiction-Szene: Utopia im Wandel

Der Autor Wolfgang Jeschke über die Grenze zwischen Wissenschaft und Fiktion


In der Sciencefiction-Literatur spiegelt sich immer auch der technische Fortschritt von heute

Wolfgang Jeschke ist seit über 25 Jahren Herausgeber einer Sciencefiction-Reihe im Heyne Verlag. Der wissenschaftlich interessierte Germanist ist ein Kenner der deutschen und internationalen SciFi-Szene und wird auf dem diesjährigen Erstsemestertag als Teilnehmer der Podiumsdiskussion zum Thema "Gentechnologie" anwesend sein.

Für viele Menschen sind Zukunfts-Utopien in Form von Literatur oder Filmen ein Hobby. Aber wie wird man ein professioneller Fachmann für Sciencefiction?

Das Hobby hat sich bei mir über einen längeren Zeitraum hin zur Profession entwickelt. Schon zu Schulzeiten habe ich mich mit Astronomie und Raumfahrt beschäftigt, in erster Linie aus wissenschaftlichem Interesse. Außerdem habe ich darüber aber auch bereits die ersten Sciencefiction-Romane in die Hand bekommen. Schließlich lernte ich Leute kennen, die sowohl in der Raumfahrt tätig waren und zugleich belletristische Texte schrieben. Die Grenze zwischen Wissenschaft und Utopie ist fließend.

Gibt es denn tatsächlich Einflüsse der Belletristik auf die Wissenschaft oder umgekehrt?

Der Naturwissenschaftler Hermann Oberth zum Beispiel hat sich bei seinen Plänen für eine Mondrakete von Jules Vernes Roman "Von der Erde zum Mond" anregen lassen. Natürlich hat er die Grundidee stark variiert. Von Oberths Versuchen wiederum war Fritz Lang fasziniert. Er wollte beim Start seines Films "Die Frau im Mond" eine Rakete in den Himmel schießen. Das Projekt erwies sich damals allerdings als noch nicht praxistauglich. Zu den Rakentenbastlern um Oberth, die in Reinickendorf saßen, stieß später Werner von Braun, und der sollte schließlich erfolgreicher an die Sache herangehen - wenn auch mit katastrophalem politischem Hintergrund. Und das ist nur ein Beispiel für die Wechselbeziehungen zwischen Science und Fiction.

Sie sind weder Forscher noch Regisseur geworden.

Nein, aber Schriftsteller: drei Romane, ein halbes Dutzend Hörspiele, zwei Dutzend Erzählungen. Aber ich bin zunächst anderen Interessen nachgegangen, habe Germanistik und Philosophie studiert. Anschließend habe ich im Kindler Verlag die Sachbuchdomäne betreut. Dort wurde schließlich die Reihe "Science Fiction für Kenner" ins Leben gerufen, so wurde mein Hobby allmählich zum Beruf. Sinn und Zweck dieser Reihe war es, die besten Texte aus Amerika in Taschenbuchform dem deutschen Publikum zu erschließen. Später wurde die Reihe an Heyne verkauft - und ich ging mit.

Seit 1986 geben Sie die Sciencefictionjahrbücher heraus. Wie kam es zu diesem ungewöhnlichen Konzept eines umfassenden Überblicks über die Szene und ihre Produkte in Form eines periodisch erscheinenden Sachbuches?

Am Anfang stand die Idee, eine Vierteljahreszeitschrift zu produzieren. Aus diesem "Heyne Science Fiction Magazin" wurde später das Jahrbuch. Der Bedarf an sachlicher Information ist auch bei Sciencefiction-Fans nicht zu unterschätzen, und seit 1973 habe ich mehr als 100 Anthologien herausgegeben.

"Deutsche Dichter" sind bereits sprichwörtlich geworden. Aber deutsche Sciencefiction-Autoren, die sich allgemeiner Berühmtheit erfreuen, sind nach wie vor rar gesät. Warum? Das Genre selbst ist doch offensichtlich populär.

Der große Markt befindet sich in den USA. Schon allein dank der englischen Sprache können Autoren dort darauf bauen, auch im Ausland beträchtlichen Absatz zu machen. Entsprechend viele Freelancer gibt es dort. Deutsche Autoren hingegen sind in der Regel auf Nebenjobs angewiesen - häufig arbeiten sie in der Werbebranche oder als Übersetzer. Das liegt auch daran, das Sciencefiction-Lesungen im Buchhandel nicht üblich sind. Gerade da könnten die Autoren aber Geld verdienen. Die ökonomische Situation für Schriftsteller in diesem Genre ist in den vergangenen 30 Jahren nicht wesentlich besser geworden.

Inwiefern haben sich die inhaltlichen Schwerpunkte in der Sciencefiction während dieser Zeit verschoben?

Man kann in diesem Genre sehr deutlich die Hoffnungen und Ängste der jeweiligen Zeit ablesen. Überbevölkerung und atomare Bedrohung waren in den 70ern stark vertretene Themenbereiche. Später trat die Problematik der Umweltverschmutzung stärker in den Vordergrund. Dann kam der Cyberpunk: die Utopie, mit dem Computer direkt in Kontakt treten zu können, sozusagen direkt hinter den Bildschirm zu gelangen. Mittlerweile spielt das Thema Gentechnik eine bedeutende Rolle, wobei diesem Komplex sowohl positive als auch negative Erwartungen entgegengebracht werden.

Wie wird Gentechnik in der Sciencefiction Literatur im Einzelnen dargestellt?

Da ist zum einen das Szenario der verbrecherischen Nutzung: Maßgeschneiderte Viren werden gezüchtet, um die Menscheit zu vernichten. Aber auch individuelle und soziale Aspekte werden thematisiert: Was passiert mit einem Menschen, der geklont worden ist? Ist er eine Art Doppelgänger oder eine eigenständige Persönlichkeit? Zerfällt die Gesellschaft durch genetische Optimierung in zwei Klassen? Dieses Szenario wird als Generationenkonflikt und auch als soziales Problem dargestellt. Gerade bei der Gentechnik stehen Hoffen und Bangen dicht beieinander.

Ist Sciencefiction auschließlich einem inhaltlichen Wandel unterworfen, oder machen sich auch anderweitig Veränderungen in der Szene bemerkbar?

Der inhaltliche Wandel bezieht sich ja nicht nur auf den Gegenstand - also Atomkrieg, Umweltzerstörung, künstliche Intelligenz oder Biotechnologie -, sondern auch auf die Herangehensweise an diese Komplexe. Mittlerweile spielen zwischenmenschliche Aspekte eine wesentlich größere Rolle als noch vor 20 oder 30 Jahren. Klassiker wie Asimov haben sozusagen noch ohne Unterleib geschrieben, da standen noch die technischen Aspekte im Vordergrund, nicht der Mensch.

Beruht dieser Perspektivenwechsel ausschließlich auf den gewandelten Inhalten oder hat dieser Wandel noch andere Gründe?

Nein, nur auf die Inhalte kann man den Wechsel nicht zurückführen. Er ist vor allem den Autorinnen zu verdanken, die in die ehemalige Männerdomäne Sciencefiction eingebrochen sind. Vor allem Frauen haben den zwischenmenschlichen Aspekt in das Genre hereingebracht und dieses bereichert. Einige Autorinnen schreiben auch unter männlichen Pseudonymen - und das auch in klassisch maskuliner Manier: also durchaus auch mit einer gehörigen Portion Computer- und Technikbegeisterung. Seit den 70ern hat in der Szene in vielen Bereichen ein deutlicher Wandel stattgefunden - und es bleibt weiterhin spannend.

Interview: Lars Klaaßen

Das Sciencefiction-Jahr 2000

Statt spekulativer Wissenschaft bietet Das Science Fiction Jahr 2000 einen soliden und theoretisch fundierten Überblick über all das, was ausdrücklich als fabulierte Auseinandersetzug mit unserer Zukunft und der technischen Entwicklung daherkommt. Bereits 15 Bände dieser Art hat Wolfgang Jeschke im Laufe der Jahre herausgegeben. Wer wissen will, was in der hiesigen und anglo-amerikanischen SF-Szene los ist, Besprechungen neu erschienener Bücher oder Filme sucht, literar- und filmtheoretische Essays mag oder sonst irgendwelche Infos rund um SciFi sucht, ist mit dem 927 Seiten starken Wälzer gut bedient. Das Buch eignet sich nicht nur als Nachschlagewerk, sondern verführt auch zum mußevollen Schmökern. Für richtige Fans ist dieser Klassiker ein Muss.
Wolfgang Jeschke (Hg.), Das Science Fiction Jahr 2000, Heyne, 2000, 927 S., 38,- DM.


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