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Nr. 6, Juni 2003
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Spitzenforschung mit hohen Gästen aus aller Welt

Jährlich kommen fast 100 Humboldt-Stipendiaten an die TU Berlin

Die TU Berlin ist eine gastfreundliche Forschungsstätte. Und umgekehrt ist sie auch bei ausländischen Gastwissenschaftlern sehr beliebt. Das aktuelle Ranking der Alexander von Humboldt-Stiftung zeigt, dass in den Jahren 1998 bis 2002 jährlich 99 Forschungsstipendiaten und Preisträger der Humboldt-Stiftung an die TU kamen. Im Ranking bedeutet das Platz elf unter allen deutschen Hochschulen und Universitäten. Zu dem Spitzenplatz tragen besonders die Mathematiker bei. Elf von der Humboldt-Stiftung geförderte Gastwissenschaftler dieses Faches kamen jährlich im Zeitraum 1998 bis 2002. Dieser Trend setzt sich auch im Jahr 2003 fort. Unter den aktuellen Humboldt-Forschungspreisträgern, die derzeit zu Forschungszwecken an der TU Berlin weilen oder in Kürze kommen werden, befinden sich schon wieder zwei Mathematiker.

 
  Elliot H. Lieb (l.) und Ruedi Seiler

Professor Elliot H. Lieb von der Princeton University gehört zu den weltweit führenden Forschern seines Faches. Er ist Mitglied mehrerer nationaler Wissenschafts- Akademien und Ehrendoktor der Universität Kopenhagen sowie der Ecole Polytechnique Fédéral in Lausanne. Für seine fachübergreifenden Forschungen in theoretischer Physik, Mathematik und mathematischer Physik ist er bereits mit zahlreichen internationalen Auszeichnungen geehrt worden.

Und nun kommt er, ausgestattet mit dem Humboldt-Forschungspreis 2002, an die TU. Sein Gastgeber, Prof. Ruedi Seiler, freut sich besonders auf die gemeinsamen Arbeiten zur Quantenelektrodynamik. Sie ist eine Theorie, mit der Wissenschaftler das Verhalten von Elementarteilchen beschreiben. Ein trickreiches Unterfangen, denn es müssen die Gesetze der Quantenmechanik und die der klassischen Elektrodynamik zusammengebracht werden. Elliot Lieb hat sich dazu einiges vorgenommen. Gemeinsam mit seinen Berliner Kollegen will er eine wichtige physikalische Größe, die so genannte Feinstrukturkonstante, mathematisch exakt beschreiben. Die mit bezeichnete Größe ist ein Maß für die Wahrscheinlichkeit, mit der ein Elektron spontan ein Lichtteilchen (Photon) aussendet. 1916 ist sie von dem deutschen Physiker Arnold Sommerfeld eingeführt worden. Ihre exakte Berechnung ist jedoch nicht unproblematisch. Bislang haben Mathematiker die zur Berechnung erforderliche Energie des Elektrons im Magnetfeld als Potenzreihe beschrieben. Experimentell haben sie nachgewiesen, dass man den richtigen Wert für á erhält, wenn man die Potenzreihe nach der vierten Ordnung abbricht. Doch niemand weiß, warum das funktioniert. Elliot Lieb will das herausfinden.

Dass er der richtige Mann für derart knifflige Sachen ist, hat er bereits mehrfach bewiesen. Schon mit seiner in den Sechzigerjahren gefundenen Lösung des so genannten F-Modells hat er ein physikalisches Phänomen - das sonderbare Verhalten von Wasser bei sehr kleinen Temperaturen - auf die richtigen mathematischen Füße gestellt. Die spezifische Wärme von Wasser geht nämlich am Temperaturnullpunkt nicht, wie vom dritten Hauptsatz der Thermodynamik gefordert, gegen Null. Ursache sind die so genannten Wasserstoffbrückenbindungen, die für unser gesamtes Leben von großer Bedeutung sind. Sie sind keine direkte chemische Bindung, sondern Wechselwirkungen, die die Wasserstoffatome über den Raum miteinander eingehen. Die H2O-Moleküle sind dadurch wie in einem Netz miteinander verwoben. Elliot Lieb hat diese Strukturen in sein mathematisches Modell integriert und damit die richtige mathematische Beschreibung für das Phänomen geliefert.

"Liebs Arbeiten sind Angewandte Mathematik und Mathematische Physik im besten Sinne", sagt Seiler. Der Mathematik-Professor ist überzeugt, dass es seinem Gast gelingen wird, einige der konzeptionellen Lücken im Verständnis der Quantenelektrodynamik zu schließen. "Wir können stolz sein, dass Elliot Lieb diese Arbeiten an der TU in Berlin durchführt."

 
Roman Kotecky (l.) und Jean-Dominique Deuschel  

Ein weiterer Mathematiker, Prof. Roman Kotecky, weilt bereits seit Anfang April in Berlin. Noch bis Ende Juni ist er Gast bei Prof. Jean-Dominique Deuschel von der Arbeitsgruppe Stochastik. Dort berechnet er Phasenübergänge, wie sie zum Beispiel auftreten, wenn Wasser siedet und vom flüssigen in den gasförmigen Zustand übertritt. Oder wenn Kristalle in eine bestimmte Richtung wachsen.

Kotecky, der an der Universität von Prag forscht, interessiert die Frage, wie sich ein Kristall formt. "Physiker messen etwas Makroskopisches. Eigenschaften, die an der Oberfläche zu sehen sind. Wir wollen verstehen, wie sich die makroskopische Form des Kristalls herleiten lässt. Ausgehend von einem Modell mit mikroskopischen Kräften, die zwischen den Atomen wirken und sie zusammenhalten", beschreibt Deuschel das Forschungsinteresse der Mathematiker. Die relevanten mathematischen Methoden dafür finden sich in der Wahrscheinlichkeitstheorie.

Die Gesetze des Phasenübergangs, erläutert Kotecky, sind nicht nur bei physikalischen Phänomenen relevant. Auch im Straßenverkehr, wenn flüssiger Verkehr in einen Stau übergeht, wirken ähnliche mathematische Gesetzmäßigkeiten. Der einzige Unterschied ist, dass der Phasenübergang beim Sieden von Wasser auf Grund der riesigen Menge der involvierten Atome abrupt erfolgt. Bei der Bildung eines Staus geschieht das weniger abrupt, da die Anzahl der Fahrzeuge wesentlich geringer ist. Die mathematischen Methoden, die den Vorgang beschreiben, sind jedoch dieselben. Gemeinsam untersuchen Kotecky und Deuschel derzeit, wie sich ein elastischer Kristall verhält, wenn man ihn durch Drücken oder Ziehen deformiert. Die Denkansätze mit ihren Ausgangsgrößen fließen in ein Formelwerk ein. Ziel ist die Berechnung der Wahrscheinlichkeit, welche Form der Kristall annimmt.

 
  Oleg Vasyutinskii (r.) und Dieter Zimmermann

Ein echter Grenzgänger zwischen den Fächern Physik und Chemie ist der aus Russland kommende Preisträger Prof. Oleg Vasyutinskii. Voraussichtlich im Oktober wird er für weitere drei Monate an das Institut für Atomare Physik und Fachdidaktik zu Prof. Dieter Zimmermann kommen. Der 1951 im damaligen Leningrad (heute St. Petersburg) geborene Physiker untersucht, wie Moleküle durch Lichteinwirkung in ihre atomaren Bestandteile zerlegt werden. Fachleute nennen diesen Prozess Photodissoziation. Vasyutinskii ist einer der weltweit führenden Experten auf diesem Gebiet.

Wenn er den zeitlichen Verlauf und das energetische Verhalten solcher Prozesse untersucht, ist das in erster Linie Grundlagenforschung. Doch spielt die Photodissoziation in der oberen Erdatmosphäre eine wichtige Rolle. Unter Einwirkung von Sonnenlicht werden dort Moleküle zerlegt. Die Fragmente sind sehr reaktiv und bilden neue Moleküle, zum Beispiel das Ozon. Oleg Vasyutinskii hat durch seine Pionierarbeiten schon mehrfach den Grundstein für weiterführende Forschungsarbeiten auf diesem Gebiet gelegt.

Anfang der 80er Jahre hat er beispielsweise eine aus dem Jahr 1968 stammende Theorie experimentell bestätigt. Dabei hat er nachgewiesen, dass die unter Einwirkung von polarisiertem Licht entstandenen atomaren Fragmente selbst polarisiert sind. Das heißt, die Achse, um die sie sich drehen, ist nicht zufällig über alle Raumrichtungen verteilt. Stattdessen hat sie eine Vorzugsrichtung. Dasselbe gilt für die Flugrichtung.

In Berlin setzt Vasyutinskii die seit mehr als fünf Jahren bestehende Kooperation mit Prof. Dieter Zimmermann fort. Vor allem die guten experimentellen Möglichkeiten, die am heimatlichen Ioffe-Institut der Russischen Akademie der Wissenschaften in St. Petersburg nur schwer zu realisieren sind, reizen ihn. Mit seinem Modellsystem Natriumiodid plant er deshalb ein so genanntes vollständiges Experiment, bei dem möglichst alle Eigenschaften der Fragmentatome gemessen werden.

 
Igor L. Fedushkin (r.) und Herbert Schumann  

Prof. Igor L. Fedushkin, derzeit Gast am Institut für Chemie, kennt die TU bereits. Seit seinem ersten Aufenthalt 1992/93 ist er in engem Kontakt mit Prof. Herbert Schumann geblieben. Er bezeichnet den in Nizhny Novgorod forschenden Juniorprofessor als den "besten Post-Doktoranden, den ich je hatte." Zirka drei bis vier Arbeiten veröffentlichen Schumann und Fedushkin pro Jahr gemeinsam. Jetzt hat Igor Fedushkin einen der zehn verliehenen Friedrich Wilhelm Bessel- Forschungspreise bekommen und damit die Möglichkeit, für ein halbes Jahr nach Berlin zu kommen. Der 37-jährige Chemiker hat bereits mehrfach als Forschungsstipendiat, darunter auch als Humboldt- Stipendiat, im Ausland gearbeitet. Immer nutzt er die Gelegenheit, um selbst im Labor zu stehen und experimentelle Möglichkeiten, die er in Russland nicht hat, anzuwenden.

Igor Fedushkin forscht auf dem Gebiet der metallorganischen Verbindungen. Das sind Stoffe, in denen ein Metallatom zusammen mit einem organischen Liganden eine komplexe Struktur bildet. Eine Gruppe unter ihnen, die metallorganischen Verbindungen der Lanthanoide und der Erdalkalimetalle, ist besonders reaktiv. Mit ihnen beschäftigt sich der russische Gast. Aufgrund ihrer großen Empfindlichkeit gegenüber Wasser und Sauerstoff sind sie extrem schwierig herzustellen und nur unter Schutzgasatmosphäre zu handhaben.

Gleichzeitig sind die Stoffe aber wegen ihrer großen Reaktionsfreudigkeit begehrte Katalysatoren zur Polymerisation von Olefinen und damit zur Produktion von Kunststoffen wie Polypropylen. Den Durchbruch in die Industrie haben sie aber aufgrund ihrer extremen Empfindlichkeit noch nicht geschafft. Fedushkin sucht deshalb nach neuen Ligandensystemen und nach Verbindungen, in denen billige Erdalkalimetalle wie Magnesium und Calcium die Rolle des zentralen Metallions einnehmen.

Herbert Schumann erhält im August für seine langjährigen Arbeiten auf dem Gebiet der Organometallverbindungen der Lanthanoide den "LeCoc de Boisbaudran Award 2003" der European Rare Earth and Actinide Society. Der TU-Professor sieht darin sein gesamtes Team gewürdigt.

Ina Helms

Humboldt-Stiftung wird 50

Die Alexander von Humboldt-Stiftung feiert in diesem Jahr ihr fünfzigjähriges Bestehen. Ein Jubiläum, an dem zirka 23 000 geförderte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus über 130 Ländern teilhaben. So viele Forscher kamen seit dem 10. Dezember 1953, dem Tag der Neugründung der Stiftung, in den Genuss von Stipendien und Forschungspreisen.

Vorzugsweise erhalten ausländische Forschende die Möglichkeit, an eine deutsche Forschungseinrichtung zu kommen. Als Stipendiaten wählen sie ihren Aufenthaltsort selbst. Für einen Humboldt-Preis müssen sie von einem deutschen Forschenden vorgeschlagen werden.

Einzigartig ist das Netzwerk, das die Humboldt-Stiftung damit knüpft. Denn wenn deutsche Forscher sich um ein Stipendium der Humboldt-Stiftung bewerben, muss ihr ausländischer Gastgeber ein ehemaliger Humboldt-Stipendiat sein.

Der Humboldt-Forschungspreis ist mit derzeit 75 000 Euro der höchst dotierte der Stiftung. Er wird seit 1972 verliehen, die Stiftung würdigt damit das Gesamtwerk eines Forschers. Außerdem gibt es das Zukunftsinvestitionsprogramm der Bundesregierung. In dessen Rahmen kann die Humboldt- Stiftung für 2001 bis 2003 zusätzlich zu ihren regulären Forschungspreisen einen Preis an jüngere ausländische Spitzenwissenschaftler bis zu einem Alter von 45 Jahren vergeben. 2002 wurden 20 solcher Wilhelm Bessel-Forschungspreise vergeben. Sie sind mit 55 000 Euro dotiert.

ina

www.humboldt-foundation.de

 

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