Berliner wollen ins Grüne, Pariser lieben die Metropole
Urbanisierungsforschung an Villenkolonien der Jahrhundertwende
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In der Zehlendorfer Lessingstraße
11 wurde 1910 die Villa von Ferdinand Kallmann erbaut |
Inmitten der "Denkmäler des Bürgertums", im
Villenviertel Lichterfelde, behütet von der Gouvernante, war
Julius Posener aufgewachsen, berühmter Architekturhistoriker
und TU-Professor, dessen Geburtstag sich 2004 zum 100. Mal jährt.
Ihm zu Ehren veranstaltete die TU-Arbeitsstelle
für europäische Stadtgeschichte der TU die mehrtägige
internationale Konferenz "Villa in Suburbia - Berlin im Metropolen-Vergleich".
Berlin war für Posener nicht nur die größte Mietskasernenstadt,
sondern auch die größte Villenstadt der Welt. Seit der
Kaiserzeit bildeten die prachtvollen Villen, teils kleine Schlösser,
an der grünen Peripherie Berlins, insbesondere im Westen, das
suburbane Mosaik einer Landhaus- und Villenlandschaft, das in seiner
Vielfalt und seinem gestalterischen Reichtum in Europa seinesgleichen
sucht.
Dieses historische Erbe ist besonders wegen der Folgelasten nicht
ganz unproblematisch. In der Wissenschaft erwacht, so Prof. Dr.
Heinz Reif von der Arbeitsstelle am Institut für Geschichte
und Kunstgeschichte der TU Berlin, das Interesse an einer interdisziplinären
Suburbanisierungsforschung wieder. Die Wohnsiedlungen am grünen
Stadtrand galten lange Zeit im Gegensatz zur dicht besiedelten,
anregenden und innovativen Innenstadt als private Rückzugsräume.
In den großen deutschen Zeitungen sind noch im vergangenen
Jahr zum Beispiel 1092 Texte zum Berliner Schloss erschienen und
nur 37 zum Wohnen und Leben in den Vororten, wie die FAZ herausfand.
Erst in neuerer Zeit mehren sich die Versuche, die speziellen Strukturen
und Eigenschaften der Stadtrandsiedlungen und Vorortgemeinden zu
entschlüsseln. Sichtbar wurde dabei ein vielfältiges Nebeneinander
zahlreicher Suburbanisierungspfade, eine extrem unterschiedliche
Wertigkeit der Siedlungen nach ihrer sozialen, politischen, architektonischen
und stadtgestalterischen Qualität, vor allem aber eine Fülle
von eigensinnigen suburbanen Siedlungswelten. An der TU Berlin bemüht
man sich bereits seit einigen Jahren, sich aus der Enge der Fachdisziplinen
zu lösen und Erkenntnisse der Kunstgeschichte, der Architektur-
und Verkehrsgeschichte, der Stadt- und Landschaftsplanung, der Stadtsoziologie
und Stadtethnologie in gemeinsamen Forschungsfeldern zusammenzuführen.
"In Berlin bewegte sich der Zug des Bürgertums in mehrere
Richtungen, zunächst die Reichen, dann das Mittelbürgertum
und schließlich auch die kleineren Leute, die dem Häuschen
im Grünen nachstrebten: nach Osten (Köpenick, Müggelheim),
nach Norden (Gartenstadt Frohnau) und der erfolgreichste nach Südwesten
(Grunewald, Dahlem)", erklärt der kunstgeschichtlich forschende
Historiker und Ingenieur Heinz Reif. "Wohnen am Rande der Stadt
ist in Deutschland das dominierende Wohnideal geblieben. Doch dabei
trennen sich Räume und Welten schichtenspezifisch, Bevölkerungsgruppen
werden einander fremd, der Boden wird teurer, die Zersiedelung nimmt
zu und verändert die Infrastruktur erheblich." Sowohl
das stadtplanerische als auch das soziologische Phänomen seien
wichtige Inhalte der Urbanisierungsforschung. Denn diese Bewegung
folgt keinem Zwang. Der Blick über den Tellerrand zeigt es:
Die Wiener oder Pariser Bürger bleiben stärker der Innenstadt
zugewandt, ihren Theatern, Märkten, Plätzen und Denkmälern.
Sie haben weder die englische Naturideologie, noch stigmatisieren
sie ihre Großstadt als krank machenden Moloch, wie es die
Deutschen tun.
Patricia Pätzold
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