Den Reichstag fest im Griff
Architekturstudierende bauen ein Modell für blinde Besucher
im Deutschen Bundestag
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In Burkhard Lüdtkes (3.
v. l.) Modellbau-Werkstatt lernen die Studierenden von Sehbehinderten
und Nichtsehenden, wie ein Modell für Blinde gestaltet
sein muss, um eine detailgenaue Vorstellung von dem Gebäude
zu bekommen
Foto: privat |
Stockfinster ist es in dem Raum. Leises Gekicher und dann konzentrierte
Ruhe. Die Hände der Architekturstudenten tasten über Stein,
Glas, Gips und Wolle. Sie führen keinen Psychotest gegen die
Angst im Dunkeln durch, sondern sie wollen wissen, wie Blinde "sehen",
wie durch das Befühlen ein inneres Bild von dem ertasteten
Gegenstand entsteht. Sie wollen ein "begreifbares" Modell
des Reichstags für Blinde und Sehbehinderte schaffen, das auch
Sehende im Foyer des Reichstagsgebäudes erfreuen soll. Schirmherr
des Projekts ist der Präsident des Deutschen Bundestages, Wolfgang
Thierse.
"Die üblichen Bronzemodelle können mit ihren Abrundungen
die Realität nicht formgetreu wiedergeben", erklärt
Burkhard Lüdtke, der kreative Designkünstler, Musiker
und Leiter des in Deutschland einmaligen Fachgebiets Modellbau an
der TU Berlin. Er will daher einen anderen Versuch wagen: Die Benutzer
des Modells sollen auch einen Eindruck der Materialien bekommen,
aus denen das geschichtsträchtige Haus gebaut ist: Sandstein,
Glas, Marmor ... Das ist ein schwieriges Unterfangen, Anfassen ist
naturgemäß erwünscht, was dem Material eine entsprechende
Stabilität abfordert.
Doch Burkhard Lüdtke ist keiner, der schnell aufgibt. Das
bringt er auch seinen Studierenden bei. Schon seit einigen Jahren
arbeitet der Deutsche Bundestag in seinem Projekt "Barrierefreier
Deutscher Bundestag" an behindertenfreundlichen Angeboten:
Zugänge über Rampen für Rollstuhlfahrer, Hörgeräte
und Gebärdendolmetscher für Hörgeschädigte,
Wegweiser in Brailleschrift oder Hörkassetten und Broschüren
ebenfalls in Brailleschrift für Blinde.
Nun soll ein maßstabsgetreues Modell des Gebäudes von
1,50 mal 1,50 Metern das Angebot ergänzen, das die Studierenden
um Burkhard Lüdtke entwerfen und bauen. Geplant ist außerdem
ein Detail-Modell der architektonisch besonders interessanten Kuppel
und ein betastbarer Lageplan der Umgebung.
Wieso das Modell ausgerechnet diese Größe hat, erklärt
Burkhard Lüdtke so: "Blinde können sich eine maßstäbliche
Vorstellung nur machen, wenn sie das Modell richtig umfassen können,
wenn sie Anfang und Ende kennen." Um diese Erkenntnis zu gewinnen,
mussten sich die Studierenden zunächst mit der Welt der Blinden
beschäftigen. Aufschluss gaben unter anderem der Besuch einer
Gruppe von Mitgliedern des Deutschen
Blinden- und Sehbehindertenverbandes e.V. sowie die Selbstversuche
in der Dunkelkammer. Auch Abgeordnete des Bundestages und Mitglieder
des Ältestenrates konnten die Studierenden bereits begrüßen,
um ihnen den Fortgang der Arbeit zu präsentieren. Auf diesen
Praxisbezug legt Burkhard Lüdtke in seiner Lehre großen
Wert. Eines der letzten großen Projekte war der Entwurf von
Bühnenbildern für die erfolgreiche "Palast-Revue"
des Sängers Max Raabe, mit denen Raabe dann durch Deutschland
tourte. Jüngst waren Architektur- und Designmodelle aus der
Berliner Design-Schmiede im Hamburger Altonaer Museum zu sehen.
"Wir sind schon äußerst gespannt auf die nächsten
Modell-Kostproben", sagt Reiner Delgado vom Sehbehindertenverband.
Den fertigen Reichstag sollen blinde Besucher zum ersten Mal Anfang
2006 "begreifen" können.
Patricia Pätzold
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