Ursache und Wirkung vertauscht
Wie die deutsche Schule Chancengleichheit auch für Migrantenkinder
fördern kann
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Unterricht in einer Klasse
mit hohem Ausländeranteil (Reginhard-Grundschule, Berlin)
Foto: TU-Pressestelle |
In den letzten Wochen dominierte der Begriff "Parallelgesellschaft"
die mediale und politische Öffentlichkeit. Die Diskussionen
konzentrierten sich auf die "Erkenntnis" einer bisher
verfehlten Integrationspolitik sowie des Scheiterns der multikulturellen
Gesellschaft. Die Schuld wurde den Ausländern angelastet: Sie
seien integrationsunwillig, lernten nicht Deutsch und schotteten
sich ab.
Fakt ist, dass viele Migranten in Deutschland sehr unzureichend
Deutsch sprechen, überproportional von Arbeitslosigkeit betroffen
sind, ihr Anteil an abgeschlossenen Ausbildungsverträgen unterproportional
niedrig ist und Rückzugstendenzen in die ethnischen Gemeinschaften
zu beobachten sind. Fakt ist aber auch, dass in Deutschland in der
"Ausländerfrage" häufig Ursache und Wirkung
miteinander vertauscht werden, besonders was die Bildungssituation
von Migranten anbelangt.
In traditionellen Einwanderungsländern wie Kanada, USA oder
Australien stellen Bildungsinstitutionen wie Kindergarten, Schule,
Hochschule das Instrument zur gesellschaftlichen Integration von
Neubürgern dar.
Sehen wir nach Deutschland: Ein Drittel der Schüler mit Migrationshintergrund
verlässt im Bundesdurchschnitt die Schule ohne einen Schulabschluss,
über 40 Prozent mit dem Hauptschulabschluss. Lediglich 10 Prozent
machen Abitur und können studieren. Bei deutschen Schülern
sind diese Zahlen genau umgekehrt.
Die Erklärung liefert die PISA-Studie. In Deutschland korreliert
der Bildungserfolg eng mit dem sozialen Status der Schüler
und determiniert ihre schulische Biografie. Da der überwiegende
Teil der Migrantenfamilien den sozial schwächsten Schichten
zuzurechnen ist, sind deren Kinder die hauptsächlichen Verlierer
des deutschen Bildungssystems. Die deutsche Schule hat sich in den
letzten vier Jahrzehnten nicht von ihrem "monokulturellen Habitus"
gelöst.
Nach wie vor entstammen die Lehrkräfte überwiegend der
deutschen Mehrheitsgesellschaft, werden für monokulturelle
Schulen mit monolingualen Schülern ausgebildet, die in der
Realität nicht existieren. Themen wie "Mehrsprachigkeit,
Spracherwerb unter migrationssoziologischen Bedingungen, interkulturelle
Ausrichtung von Schule und Unterricht" tauchen an den meisten
Universitäten allenfalls marginal auf. Die angehenden Lehrer
fühlen sich unvorbereitet und überfordert.
Die administrativen und amtlichen Erlasse der Berliner Bildungspolitik
der 1990er-Jahre zeigten keinerlei institutionellen Wandel in den
Bereichen "Beschulung von Migrantenkindern, Sprachförderunterricht,
Präsenz der Migrantensprachen im Schulunterricht und interkulturelle
Ausrichtung des Unterrichts". Die Handlungsmaxime der Bildungspolitik
bestand in der Bewahrung des Status quo.
Die Existenz von Schülern unterschiedlicher kultureller, religiöser
und sprachlicher Herkunft wurde nicht als Bereicherung empfunden,
sondern als eine Belastung. Bis in die zweite Hälfte der 1990er-Jahre
wurden schulische Modelle der unterrichtlich-organisatorischen Segregation
bevorzugt wie die Ausländerregelklassen, obwohl Wissenschaftler
deren integrationspädagogischen Nutzen längst bezweifelten
und ihre Abschaffung forderten. An den institutionellen Rahmenbedingungen
für die Lehrerausbildung wurde in Berlin nichts verändert.
Erst seit 2001 - auf massiven, durch die PISA-Ergebnisse bedingten
öffentlichen Druck - ist die schulische Integration von Migrantenkindern
zu einem zentralen bildungspolitischen Thema geworden. Mittlerweile
findet an vielen Kindertagesstätten Sprachförderunterricht
statt. Auch wird vor der Einschulung ein flächendeckender Test
zur Feststellung der Deutschkenntnisse durchgeführt.
Weitere Schritte müssen nun folgen, wie die verbindliche Aufnahme
der Bereiche "Spracherwerb, Migrationssoziologie und gesellschaftlich-kulturelle
Pluralität" in die universitäre Lehrerausbildung.
Vor allem muss das deutsche Bildungssystem endlich von diskriminierenden
Maßnahmen wie der getrennten Beschulung oder der vorschnellen
Zuweisung von Migrantenschülern in Sonderschulen wegkommen,
um wirklich Chancengleichheit zu schaffen.
Eine leistungsstarke und international wettbewerbsfähige deutsche
Schule kann nur gelingen, wenn sie darauf abzielt, alle Schüler,
unabhängig von der kulturellen und sprachlichen Zugehörigkeit,
zu fördern.
Dr. Havva Engin,
Institut für Erziehungswissenschaft
"Weit entfernt von ihrer Lebenswelt"
Rassismus in deutschen Schulen
Zu Beginn des neuen Schuljahres im September fragte mich
ein aus dem Mittleren Osten stammender Zehntklässler
eines Berliner Gymnasiums, ob ich glaube, dass in Deutschland
Rassismus existiere. Er sei niemals Zeuge oder Opfer von Rassismus
geworden. Das verblüffte mich völlig. Im Rahmen
des Bundeskanzlerstipendiums der Alexander
von Humboldt-Stiftung bin ich aus den Vereinigten Staaten
nach Deutschland an das Institut
für Erziehungswissenschaft der Technischen Universität
Berlin gekommen, um Studien zur "Interkulturellen Erziehung"
an Berliner Schulen durchzuführen. Ich hatte angenommen,
die meisten Menschen würden sich die Existenz von Rassismus
in ihren jeweiligen kulturellen Kontexten eingestehen. Mich
interessierte, mit welchen Mitteln sich Schulen in Berlin
mit den Auswirkungen von Rassismus auseinander setzen und
was sie für die Integration von Schülern mit nichtdeutschem
Hintergrund tun.
Tatsächlich hielten viele Schüler, die meisten
von ihnen deutscher Abstammung, den Rassismus in Deutschland
für ein Randphänomen und für überwunden.
Ich untersuchte durch "teilnehmende Beobachtung"
und Interviews ein Gymnasium und eine Hauptschule, jeweils
in einer ethnisch vielfältigen Umgebung gelegen. Die
Gymnasiasten nahmen die Mulitkulturalität positiv wahr:
Sie können Döner und Schawarma essen, haben Kontakt
zu Schülern anderer kultureller Herkunft und entwickelten
ein "tolerantes", "kosmopolitisches" Selbstbild.
An der Hauptschule gibt es kaum noch deutsche Schüler,
da deutsche Eltern ihre Kinder aufgrund des hohen Ausländeranteils
auf andere Schulen schicken. Die dortigen Schüler nahmen
Berlin als multikulturell wahr. Sie werden mit größerer
Wahrscheinlichkeit mit Rassismus und Konflikten zwischen unterschiedlichen
Kulturen konfrontiert werden.
Ein Großteil der Lehrerschaft ist fokussiert auf Wissensvermittlung
und hat weder einen klaren Standpunkt zu interkultureller
Erziehung, noch messen sie ihr besondere Bedeutung bei. Sie
erkennen mitunter Defizite ("Mir fällt kein guter
Grund ein, warum ein türkischer oder polnischer Schüler
sich für den Investiturstreit interessieren sollte. Wir
sind zu weit weg von ihrer Lebenswelt.") und sind mitunter
bereit, andere kulturelle Werte mit in den Unterricht aufzunehmen.
Doch das bezeichnenderweise eher beiläufig und mit der
Tendenz, das Exotische und Oberflächliche anzusprechen.
In den Interviews wurde mir schnell klar, dass die Schülerinnen
und Schüler Diskriminierungen erleiden, da die Schule
und die Lehrerschaft aufgrund von fehlenden Fortbildungen
nicht in der Lage ist, den Herausforderungen zu begegnen.
Das kann ein großes Hindernis für die Leistungen
von Minderheitenschülern darstellen. Insgesamt scheinen
Schüler und Lehrer die Multikulturalität als ein
zum Scheitern verurteiltes Projekt zu betrachten.
Dr. Todd R. Ettelson,
Bundeskanzler-Stipendiat der
Alexander von Humboldt-Stiftung
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