Blinde Passagiere
Der Autoverkehr schleppt Pflanzen ein, die nicht in Berlin heimisch
sind
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Viele Pflanzen
am Straßenrand sind weit gereist - auf dem Autoreifen
quer durch Europa
Foto: privat |
Kraftfahrzeuge verteilen nicht nur Güter und Personen über
das Straßennetz. Oftmals reisen unbemerkt blinde Passagiere
mit: Samen von Pflanzen, die zum Beispiel an Stoßstangen und
in Erdklumpen im Reifenprofil kleben. Irgendwann während der
Fahrt fallen die Samen wieder ab und wachsen am Straßenrand,
weit entfernt vom Ursprungsort, zur Pflanze heran.
Dass Kraftfahrzeuge Samen nicht nur über kurze Distanzen,
sondern auch über weite Strecken transportieren, konnte nun
erstmals bei Untersuchungen im Rahmen des DFG-Graduiertenkollegs
"Stadtökologische
Perspektiven einer europäischen Metropole - das Beispiel Berlin"
nachgewiesen werden. Ein Jahr lang hat Moritz von der Lippe vom
Fachgebiet
Ökosystemkunde/Pflanzenökologie der TU Berlin in drei
Autobahntunneln im Nordwesten der Stadt das von den Fahrzeugen abgefallene
Erdmaterial aufgefangen und zum Auskeimen ins Gewächshaus gebracht.
Das Ergebnis hat die Wissenschaftler überrascht: Über
10000 keimfähige Samen gingen in die selbst entwickelten "Samenfallen".
183 verschiedene Arten wurden ermittelt, darunter auch Kultur- und
Gartenpflanzen wie Tomaten und Paprika. Knapp die Hälfte waren
Arten, die in Berlin nicht ursprünglich heimisch sind. "Diese
Arten machen jedoch nur ein Drittel der Pflanzen in den umgebenden
Stadtzonen aus. Daran kann man erkennen, dass bestimmte nichteinheimische
Pflanzen stärker durch Fahrzeuge verbreitet werden als die
einheimischen", erläutert von der Lippe.
Angefangen hat diese so genannte "biologische Invasion"
mit den Entdeckungsfahrten der Europäer im 15. Jahrhundert.
Nicht nur Edelmetalle und Handelsgüter, auch Samen von Pflanzen
machten - meist unbemerkt - die Reise über Meere und Landwege
mit. Trug früher vor allem die Schifffahrt zur Verbreitung
bei, kommt heute dem Straßenverkehr eine bedeutende Rolle
zu. So hat sich das Dänische Löffelkraut, eigentlich ein
Küsten- und Salzwiesengewächs, mittlerweile entlang der
Autobahn bis zum nördlichen Teil des Berliner Rings vorgearbeitet.
In Berlin kommt es, soweit bekannt, noch nicht vor, in den Tunnelfallen
hat der Forscher allerdings schon Samen gefunden.
Auch außerhalb Europas wird die Ausbreitung nichteinheimischer
Pflanzen an Straßenrändern aufmerksam registriert. Zusammen
mit dem Partnerprojekt an der University
of Washington in Seattle haben Teilnehmer des Graduiertenkollegs
mehrere Abschnitte von Straßenrändern in Seattle untersucht.
Die Identifizierung der gefundenen Arten bereitete den Berlinern
keine Schwierigkeiten, denn rund 90 Prozent der Pflanzen stammten
ursprünglich aus Europa. In vielen Bundesstaaten der USA hat
man zum Schutz der einheimischen Flora eigene Kontrollbehörden
eingerichtet. Diese beobachten nicht nur die Entwicklung der unerwünschten
Einwanderer, sie bekämpfen sie auch, wenn diese sich so stark
ausbreiten, dass sie seltene und gefährdete Arten verdrängen.
Neuseeland versucht, solche Einwanderer gar nicht erst ins Land
zu lassen. Auch um Tier- und Pflanzenkrankheiten zu verhindern,
bestehen strenge Regelungen für die Einfuhr von Tieren und
Pflanzen. Aber auch Gebrauchtwagen aus dem Ausland müssen eine
aufwändige Reinigungsprozedur über sich ergehen lassen,
damit sie zur Einfuhr zugelassen werden. Um auszuschließen,
dass unbemerkt Samen mit ins Land gelangen, werden sogar der Unterboden
und die Lüftungsanlagen der importierten Fahrzeuge inspiziert.
"Sehr expansive nichteinheimische Arten können auch in
Deutschland gefährdete Lebensgemeinschaften verändern
und seltene Arten verdrängen", sagt von der Lippe. So
führt zum Beispiel in Brandenburg vor allem die nordamerikanische
Robinie, ein häufig gepflanzter Straßenbaum, zum Absterben
von Trockenrasenpflanzen und bedroht besonders geschützte Biotope.
Allerdings warnt von der Lippe vor schnellen Verallgemeinerungen.
"Die meisten nichteinheimischen Arten sind unproblematisch,
es sollte immer im Einzelfall geprüft werden." Da Straßen
offenbar einen besonders effektiven Ausbreitungsweg für Pflanzen
darstellen, plädiert er dafür, nichteinheimische Strauch-
und Baumarten nur nach gründlicher Abwägung an Straßenrändern
zu pflanzen. Dadurch kann eine Gefährdung bedrohter Lebensräume
in Straßennähe verhindert werden.
Christian Hohlfeld
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