Der Natur ins Reagenzglas geschaut
Orte der Erinnerung: Chemiker Carl Liebermann: sein Ruhm - ein
Missverständnis?
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Liebermann-Grab auf dem Jüdischen
Friedhof in Berlin-Weißensee
Foto: Förster |
Carl Liebermann - wer kennt noch diesen Namen? Im Unterschied zu
seinen Vettern, Max Liebermann und Emil Rathenau, steht er heute
nicht im Mittelpunkt der öffentlichen Reflexion. Selbst in
Publikationen über die Geschichte der Technischen Universität
Berlin taucht sein Name nur vereinzelt auf. Allein seine Farbstoffsynthese
zusammen mit Carl Graebe hatte einst dazu beigetragen, dass die
deutsche Chemie eine Spitzenstellung in der Welt erlangte und sich
zur modernen Schlüsseltechnologie neben der Elektrotechnik
entwickeln konnte. Im Jahre 1891 kam der junge Fritz Haber, der
spätere Nobelpreisträger für Chemie (1918) und Vater
der Ammoniaksynthese, nach Berlin, um Professor Liebermann zu hören.
Dieser war damals sowohl Professor an der Technischen Hochschule
(TH) als auch außerordentlicher Professor an der Berliner
Universität. Ab 1913 wirkte er außerdem am Chemischen
Institut der Kaiser-Wilhelm-Gesellschaft. Er war Präsident
der deutschen Chemischen Gesellschaft und seit 1911 deren Ehrenmitglied.
War dieser Ruhm - mit Rilke gesprochen - nur ein Missverständnis,
das sich um einen Namen rankte? Keineswegs! Carl Liebermanns Karriere
war bemerkenswert.
Geboren 1842 in Berlin, wuchs er als Sohn eines jüdischen
Kattundruckers und späteren Mitglieds der Berliner Kaufmannschaft
auf. 1861 begann er ein naturwissenschaftliches Studium in Heidelberg.
Neben Physik belegte er auch bei Robert Bunsen Chemie. Nach zwei
Semestern wechselte er an die Berliner Universität, wo F. L.
Sonnenschein und Adolf von Baeyer seine akademischen Lehrer wurden.
1865 promovierte Liebermann mit einer Arbeit über die erstmals
von ihm so benannten Propargyl-Derivate. Der theoretischen Ausbildung
folgte ein Praktikum im elsässischen Mühlhausen, wo er
die Technologien der Färberei und des Zeugdrucks erlernte.
1866 trat er in den väterlichen Betrieb ein. Nach einem Jahr
entschied er sich für eine akademische Laufbahn und nahm seine
Tätigkeit im chemischen Laboratorium von A. von Baeyer wieder
auf. Dort lernte er Carl Graebe kennen, mit dem ihn enge Freundschaft
und fruchtbare Zusammenarbeit verbanden. Am 28. Juni 1869 gelang
ihnen die Alizarin-Synthese. Das war die erste künstliche Erzeugung
eines natürlichen Pflanzenfarbstoffes. Das Verfahren wurde
als britisches Patent angemeldet. Im selben Jahr habilitierte sich
Liebermann an der Gewerbeakademie. 1872 wurde er dort Laborleiter
und außerordentlicher Professor, 1873 bekam er die ordentliche
Professur des Organischen Instituts. Bei der Planung des neuen Gebäudes
für die entstehende TH beriet er den Architekten Julius Raschdorff
bei der Konzipierung der geplanten fünf neuen Chemischen Laboratorien.
Der TH gehörte er bis 1914 an. Seit 1879 hatte Liebermann eine
zweite außerordentliche Professur an der Berliner Universität.
Er analysierte und synthetisierte zahlreiche weitere Farbstoffe
und legte eine Farbtheorie vor.
Auf dem Gebiet der organischen Chemie galt er als internationale
Kapazität. Er "schaute der Natur ins Reagenzglas".
Mit Ehrungen und Ehrenämtern würdigte man ihn vielfach
als herausragenden Hochschullehrer und Forscher. Carl Liebermann
starb am 28. Dezember 1914 in Berlin. Richard Willstätter,
sein Kollege am Kaiser-Wilhelm-Institut Berlin, der spätere
Chemie-Nobelpreisträger (1915), hielt die Gedenkrede bei der
häuslichen Trauerfeier. Seine letzte Ruhe fand Liebermann auf
dem Jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee.
Hans Christian Förster
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