Ein Mozart der Literatur
Goethes "kleiner Bruder" Karl Philipp Moritz beeinflusste
die Berliner Bildungslandschaft
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In Rom hielt
der Maler Johann Heinrich Wilhelm Tischbein auf einer Federzeichnung
die Szene fest, als Goethe sich um den gebrochenen Arm seines
"kleinen Bruders" Karl Philipp Moritz kümmerte.
Tischbein malte auch das berühmte Gemälde "Goethe
in der Campagna"
© Verlag der Klassikerstätten, Weimar |
Rom - am 20. November 1786, vor genau 230 Jahren, begegnen sich
im Land, wo die Zitronen blühen, am Sehnsuchtsort aller Gestressten,
zwei deutsche Italien-Reisende: Johann Wolfgang von Goethe und Karl
Philipp Moritz, ein Minister, dem das Regieren auf die Nerven geht,
und ein Lehrer, der die Schulroutine hasst. Es sind zwei Persönlichkeiten,
die unterschiedlicher nicht sein können und die sich doch sofort
verstehen.
Der Geheimrat leistet dem vom Pferd gefallenen Landsmann sogar
Krankenpflegerdienste am gebrochenen Arm. Sie werden Freunde. Goethe
nennt Moritz seinen "jüngeren Bruder". Alle kennen
Goethe, aber wer ist Karl Philipp Moritz? Er ist ein Klassiker,
wie der Olympier, nur dass sein Genie erst mehr als hundert Jahre
nach seinem Tod entdeckt wird.
Moritz stirbt jung - ein Mozart der Literatur -, aber sein Werk
ist gigantisch. Moritz kommt von ganz unten. Am 15. September 1756
in Hameln geboren, erlebt er eine Kindheit in physischer Not und
psychischer Drangsal. In der Schule lernt er Rechnen und Lesen,
wodurch er sich die Welt über die Literatur zu erschließen
beginnt. Seine intellektuelle Begabung zeigt sich früh. Doch
der Vater schickt ihn in eine Hutmacherlehre. 1770 unternimmt Moritz
einen Selbstmordversuch und erzwingt sich so den Gymnasiumsbesuch.
1776 flieht er nach Gotha, um bei Conrad Ekhof Schauspieler zu werden.
Schließlich beginnt er 1777 in Erfurt und Wittenberg ein Theologiestudium
und erwirbt 1779 den Magister. Nach kurzer Lehrertätigkeit
in Dessau und Potsdam kommt Moritz 1779 nach Berlin, wo er als Lehrer,
Journalist, Hofrat und Professor tätig wird - unterbrochen
durch drei große Reisen: nach England (1782), durch Deutschland
(1784) und nach Italien (1786-88).
"Der Mensch ist ganz geboren und überall wird sein Leben
zerstückelt" - gegen diese empirische Erfahrung arbeitet
Moritz als Literat in seinem autobiografischen Roman "Anton
Reiser" als Forscher und Theoretiker an. Sein Leitmotiv wird
die Suche nach der Wissenschaft vom Menschen. Er ist - trotz einer
1783 diagnostizierten Lungenkrankheit - ein überaus fleißiger
Geistarbeiter, der auf vielen Fachgebieten arbeitet, forscht und
publiziert. Moritz veröffentlicht mehr als 20 Bücher;
als Journalist und Theaterkritiker arbeitet er für die Vossische
Zeitung. Für Zeitschriften wie die legendären "Berlinischen
Monatsschriften" schreibt er und häuft einen beachtlichen
Nachlass an, der, in der Berliner Akademie befindlich, noch heute
aufgearbeitet wird. Er hat sich mit Pädagogik, mit Sprachwissenschaft,
mit empirischer Psychologie, mit Ästhetik und Kunstgeschichte,
mit Altertumskunde und Mythologie, Architektur und Städtebau
beschäftigt. All das sind für ihn nur Teildisziplinen
jener umfassenden "Wissenschaft vom Menschen". Mit seinen
sprachwissenschaftlichen Studien hat er Wilhelm von Humboldt beeinflusst.
Außerdem regte ihn, den perfekt Hochdeutsch redenden Niedersachsen,
der Berliner Jargon zu Studien über Dialekt, Umgangs- und Hochsprache
an. Seine Ästhetik besprach er mit Moses Mendelssohn und mit
Geheimrat Goethe in Italien. Johann Gottfried von Schadow, Ludwig
Tieck und Wilhelm Heinrich Wackenroder gingen bei Moritz in die
Schule. Er gab die erste deutsche psychologische Zeitschrift, das
"Magazin für Erfahrungsseelenkunde", 1783-1793 heraus.
Und er hat einen Beitrag zum Unterrichten von Taubstummen geleistet.
Dieses Multitalent starb am 26. Juni 1793 in der Berliner Münzstraße
7-11. Dort erinnert heute eine Gedenktafel an ihn. Sein Grab verschwand
1848 mit der Einebnung des St.-Georgen-Friedhofs an der alten Frankfurter
Straße.
Hans Christian Förster
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