[TU Berlin] Medieninformation Nr. 82 - 29. April 1999
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Können Menschen unterschiedlicher Sprache und Nationalität in einem Land leben?

Vortrag zum Sprachen- und Nationalitätenstreit im Prag des 19. Jahrhunderts.

Peter Demetz, 1922 in Prag geboren, Emeritus der Yale University und Autor viel beachteter Studien zur deutschen Literatur, hat 1997 in New York ein umfangreiches Werk zur Kulturgeschichte Prags publiziert. Anläßlich des Erscheinens der deutschen Ausgabe, "Prag in Schwarz und Gold. Sieben Monate im Leben einer europäischen Stadt", hält Peter Demetz einen Vortrag an der TU Berlin. In seiner Rede "Noch einmal: Patocka, Bolzano, Jungmann. Sprachphilosophie im böhmischen Nationalitätenkonflikt" berichtet er über den Sprachen- und Nationalitätenstreit im Prag des 19. Jahrhunderts. Ein historisches Thema, das durch den Krieg im Kosovo eine traurige Aktualität erlangt; geht es doch schließlich um die Frage, ob Menschen unterschiedlicher Nationalität und Sprache in einem Land leben können.

Wir möchten Sie herzlich zu dem Vortrag einladen:

Zeit: am Mittwoch, dem 5. Mai 1999, 18.00 Uhr

Ort: TU Berlin, Hauptgebäude, Raum H 2051, Straße des 17. Juni 135, 10623 Berlin

Der Nationalitäten- und Sprachkonflikt Prags läßt sich anhand der philosophischen Auseinandersetzung zwischen Bernard Bolzano, Josef Jungmann und Jan Patocka bis heute nachvollziehen: Bernard Bolzano, dessen Vater vom Comer See und dessen Mutter aus Prag stammte, war katholischer Priester, Mathematiker, Wissenschaftstheoretiker und Sozialphilosoph; er lehrte an der Universität Prag, bis er seinen Lehrstuhl wegen "Freidenkerei" verlor. "Bolzano war im Grunde ein katholischer Radikaler, der an die Gleichheit aller Menschen glaubte", so Peter Demetz. Er trat für einen Territorialpatriotismus ein, der besagte, daß die Menschen das von ihnen gemeinsam bewohnte Land unabhängig von Sprache und Nation einige. Die Sprachunterschiede, so meinte Bolzano, seien die "allerunwesentlichsten". Wer dem Prinzip der Gleichheit aller Menschen jenseits der sprachlichen Unterschiede mißtraue, begehe "Hochverrat" an der Menschheit. Für Peter Demetz war Bolzano "der erste Sozialphilosoph einer zukünftigen multi-ethnischen europäischen Gemeinschaft". Doch die jüngeren Tschechen neigten damals der deutschen Romantik zu und der unabdingbaren Einheit von Nation und Sprache. Ihr Wortführer war der Philologe Josef Jungmann. Bolzano wurde vergessen. Erst Edmund Husserl entdeckte ihn als Wissenschaftsphilosophen wieder. Husserls Schüler Jan Patocka, der erste Sprecher der Charta 77, einer Unabhängigkeitsbewegung tschechischer Intellektueller unter dem Kommunismus, machte Bolzano als Sozialphilosophen bekannt. Patocka meinte 1969, die böhmischen Nationalitäten hätten den Weg Bolzanos gehen sollen und nicht den seiner romantischen Widersacher, der ins Zerwürfnis, zu Pogromen und Vertreibung und schließlich zur endgültigen Spaltung der beiden Nationalitäten führte.


Weitere Informationen erteilt Ihnen gerne: Prof. Dr. Hans Dieter Zimmermann vom Institut für Deutsche Philologie, Allgemeine und vergleichende Literaturwissenschaft der TU Berlin, Tel.: 030/314-22231, Fax: 030/314-23107.