[TU Berlin] Medieninformation Nr. 287 vom 29. November 2005 - Bearbeiter/-in: pp/sn


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Zwischen Kultur und Barbarei 

Neue Strategien zur Bekämpfung der Genitalverstümmelung bei Frauen in Afrika


Traditionelle Zeremonie in Benin in 
Westafrika                 Foto:Touristik Berlin

Trotz gesetzlicher Verbote ist in vielen Ländern die traditionell praktizierte weibliche Genitalverstümmelung nicht rückläufig. Es handelt sich dabei um eine äußerst brutale Entfernung der Klitoris sowie mitunter der Schamlippen. An der TU Berlin beschäftigt sich die Arbeitsstelle S. A. C. S. (Structural Analysis of Cultural Systems) mit den kultur-psychologischen Gründen für dieses Ritual sowie mit Möglichkeiten, diese sich derzeit weltweit immer weiter verbreitenden Praktiken einzudämmen. "Wir arbeiten dabei insbesondere mit afrikanischen universitären und außeruniversitären Einrichtungen zusammen und haben über die UNO regelmäßigen Kontakt zu Indigenenrepräsentanten", erklärt Psychologe Dr. Arnold Groh, der die Forschungen leitet. 

Der Ursprung dieses grausamen, für die betroffenen Frauen sehr schmerzhaften und oft lebensgefährlichen Rituals sei bis heute nicht bekannt, erzählt er. Es kommt vermutlich aus Ostafrika und erreichte Westafrika erst spät. Das schloss man daraus, dass die bis ins 19. Jahrhundert als Sklaven nach Amerika verschifften Westafrikaner mit diesen Praktiken offenbar nicht vertraut waren. Derzeit breitet sich diese Tradition bis nach Indonesien aus. Auch aus Südafrika und bis vor kurzem sogar Südamerika gibt es Berichte. Ältere Schätzungen gehen von zwei Millionen verstümmelter Mädchen jährlich aus, heute dürfte die Zahl erheblich höher sein. Genaue Daten gibt es nicht. "Hier steckt man in einem Dilemma", erläutert Groh, "einerseits ist es wichtig, kulturelle Eigenheiten der Völker zu schützen. In diesem Fall stehen dem aber fundamentale Menschenrechtsverletzungen entgegen." 

Heute sucht man nach Möglichkeiten, Einfluss auf die Menschen zu nehmen, um sie zur Unterlassung zu bewegen. Gesetzliche Verbote waren bislang wenig effektiv und haben das Problem sogar verschärft, wie das Beispiel Ägypten zeigt. Dort wurde das tief in der Kultur verwurzelte Ritual sogar in Krankenhäusern durchgeführt und schließlich 1996 verboten. Die Folge war, dass nunmehr Barbiere und Kurpfuscher wieder zur rostigen Rasierklinge griffen. Um die international als "Female Genital Mutilation" (FGM) bezeichnete Praxis zu bekämpfen, mussten also andere Wege beschritten werden. "Da die Traditionen sich als äußerst stabil erwiesen, wurde nun als erster Schritt ein Leitfaden erarbeitet, der zwar die kulturellen Erfordernisse respektiert, der aber darauf abzielt, das Ritual so weit zu modifizieren, dass die Mädchen keine Schäden mehr davontragen. Dieser Leitfaden ist bereits in mehrere Sprachen übersetzt und den zuständigen Ministerien der betroffenen Länder zugeleitet worden. Nun muss er weite Verbreitung in den indigenen Dörfern finden", so Groh. 

Wertvolle Daten konnte Arnold Groh zusammen mit seiner Frau, Dr. Gunhild Langenbeck-Groh, während eines von der Alexander-von-Humboldt-Stiftung unterstützten Gastaufenthaltes am Department of Psychology der University of Ibadan in Nigeria und bei Feldstudien in den Nachbarländern Benin und Togo im vergangenen Jahr erheben. "Die nigerianischen Kollegen arbeiten allerdings unter widrigen Bedingungen", erzählt der TU-Psychologe. "Die vor Jahrzehnten aufgebaute Infrastruktur zerfällt. Straßen und Gebäude sind erheblich beschädigt. Stromausfälle und eine unterbrochene Wasserversorgung sind an der Tagesordnung, ein funktionsfähiges Telefonnetz gibt es nicht mehr und Arbeit im Internet ist meist nur für Minuten und extrem langsam möglich. Wissenschaftler haben kaum Zugang zu Literatur und Fachzeitschriften." Dennoch werde dort so effektiv wie möglich zu Themen wie "Die Psychologie der Korruption“, "Intelligenzminderung durch Schadstoffbelastung" oder zu HIV- und Aids-Themen geforscht. Einen besonderen Schwerpunkt bilden neue Strategien gegen die weibliche Beschneidung. 

Patricia Pätzold

Was ist Structural Analysis of Cultural Systems (S. A. C. S.)?
S. A. C. S ist eine institutsübergreifende Arbeitsstelle, die im Januar 2004 an der Fakultät I Geisteswissenschaften von den Professoren Roland Posner und Monika Walter eingerichtet wurde. Sie führt Forschungen fort, die an das EU-Projekt CULTOS anknüpfen. Dazu gehören die Einrichtung einer Gerichtsgutachtenstelle, die Forschung und der akademische Austausch in Westafrika. Neben der Strategie gegen Genitalverstümmelung werden zum Beispiel Studien zur Handynutzung erstellt, zur Tsunami-Früherkennung, zu Farbkonzepten in archaischen Gesellschaften, zur interkulturellen Gesteninterpretation, zu Gefahren für die kulturellen Varietäten durch Tourismus oder zum Zeitmanagement in verschiedenen Gesellschaften. Die Arbeitsstelle S.A.C.S. betreut Diplomarbeiten in Kulturpsychologie und Forensik und vermittelt Praktika – auch fächerübergreifend – in universitären und außeruniversitären Einrichtungen in Übersee. Es bestehen unter anderem enge Kontakte zu Nigeria, Namibia und Benin.


Weitere Informationen erteilt Ihnen gern: Dr. Arnold Groh, Institut für Sprache und Kommunikation der TU Berlin, Arbeitsstelle für Semiotik, Ernst-Reuter-Platz 7, 10587 Berlin,  Telefon: 030/8 22 78 54 (in Berlin), Fax: 030/8 22 78 54, Telefon: 05221/8 64 76 (in Herford), E-Mail: a.groh@berlin.de, Internet: http://no-fgm.at.gs

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