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Nr. 12, Dezember 2003
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Die Alchemie - Mutter der Chemie oder ihr Gegenteil?

Zum Ende des "Jahres der Chemie" ein Blick auf die möglichen Wurzeln einer Wissenschaft

Warum sind wir eigentlich davon abgekommen, Alchemie zu treiben und den Stein der Weisen zu suchen, eine chemische Substanz mit "überchemischen" Kräften, um Blei in Gold zu verwandeln und den Menschen vor Alter und Tod zu bewahren? Er ist für uns heute ein reines Hirngespinst außerhalb aller vernünftigen Wissenschaft wie der Chemie, die man geradezu als Gegenteil der Alchemie definieren könnte.

Während nämlich die alchemischen Laboratorien mit ihren Destillationsapparaten, ihren Öfen, Filtriervorrichtungen und Waagen sich nicht prinzipiell von den chemischen Laboratorien neuerer Zeit unterschieden, sprechen die alchemischen Texte eine andere Sprache als die der Chemie. Das mühevolle Interpretieren dieser Texte setzt das Verständnis bestimmter religiöser Vorstellungen voraus, etwa der Gnosis, sowie bestimmter Sprachformen und Symbole. Chemische und nichtchemische Aussagen vermischen sich oft. Die Weltauffassung der Alchemisten war ihnen selbst oft nicht klar bewusst, der Chemie ist sie vollkommen fremd.

Das unablässige Bemühen der Alchemisten, "niedere Materie" und zugleich auch sich selbst zu höherem Sein zu veredeln, war Ausdruck dieser Weltauffassung. Entscheidend war dabei nicht der Glaube, man könne Metalle ineinander umwandeln, sondern die Alchemisten glaubten, Materie sei gewissermaßen "moralisch verbesserungsfähig", was ebenfalls eine Läuterung des Meisters der "göttlichen Kunst" in seinem Labor zur Folge habe. Ziel war die Erlösung von der "normalen Existenz", Ausdruck dieses Ziels war der Stein der Weisen. Daher war der alchemische Prozess im Prinzip stets eine Einbahnstraße: Es durfte nur aufwärts gehen. Das galt sowohl für die Wandlungen der Materie als auch für die des Menschen. Als im 17. Jahrhundert einer der ersten großen Chemiker, Robert Boyle, der immerhin noch an die Transmutation und die mögliche Existenz eines Transmutationsmittels glaubte, nicht nur Zinn in Gold verwandeln wollte, sondern auch Gold in Zinn, hatte er die Grenze fort von der Alchemie überschritten. Für ihn war das "Experimentum", von dem auch die Alchemisten immer wieder redeten, eine "Befragung" der Natur und nicht die "Erfahrung" einer Natur, die es nicht zu erklären galt. Während es dem Chemiker um das Lösen wissenschaftlicher Rätsel geht, ging es dem Alchemisten um die Auseinandersetzung mit dem Geheimnis der Natur, dem er sich sowohl durch die Lektüre kanonischer Texte als auch durch die Erfahrung seiner Labortätigkeit zu nähern glaubte.

Der Chemiker nähert sich heute seinem Gegenstand mit dem Blick des Analytikers, objektiviert ihn und benutzt eine formalisierte Sprache zur Beschreibung. Der Alchemist hat ein subjektives Verhältnis zur Natur, in die er ja sich selbst mit einbringt.

War also die Alchemie, die heute so gut wie ausgestorben ist und deren Weltauffassung von der Denkweise der Chemie verdrängt wurde, wegen ihrer scheinbaren Erfolglosigkeit ein eher kurioser Umweg? Antworten können heute nur noch Wissenschaftshistoriker geben.

Prof. Dr. Hans-Werner Schütt,
Institut für Philosophie, Wissenschaftstheorie,
Wissenschafts- und Technikgeschichte

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