Die Alchemie - Mutter der Chemie oder ihr Gegenteil?
Zum Ende des "Jahres der Chemie" ein Blick auf die
möglichen Wurzeln einer Wissenschaft
Warum
sind wir eigentlich davon abgekommen, Alchemie zu treiben und den
Stein der Weisen zu suchen, eine chemische Substanz mit "überchemischen"
Kräften, um Blei in Gold zu verwandeln und den Menschen vor
Alter und Tod zu bewahren? Er ist für uns heute ein reines
Hirngespinst außerhalb aller vernünftigen Wissenschaft
wie der Chemie, die man geradezu als Gegenteil der Alchemie definieren
könnte.
Während nämlich die alchemischen Laboratorien mit ihren
Destillationsapparaten, ihren Öfen, Filtriervorrichtungen und
Waagen sich nicht prinzipiell von den chemischen Laboratorien neuerer
Zeit unterschieden, sprechen die alchemischen Texte eine andere
Sprache als die der Chemie. Das mühevolle Interpretieren dieser
Texte setzt das Verständnis bestimmter religiöser Vorstellungen
voraus, etwa der Gnosis, sowie bestimmter Sprachformen und Symbole.
Chemische und nichtchemische Aussagen vermischen sich oft. Die Weltauffassung
der Alchemisten war ihnen selbst oft nicht klar bewusst, der Chemie
ist sie vollkommen fremd.
Das unablässige Bemühen der Alchemisten, "niedere
Materie" und zugleich auch sich selbst zu höherem Sein
zu veredeln, war Ausdruck dieser Weltauffassung. Entscheidend war
dabei nicht der Glaube, man könne Metalle ineinander umwandeln,
sondern die Alchemisten glaubten, Materie sei gewissermaßen
"moralisch verbesserungsfähig", was ebenfalls eine
Läuterung des Meisters der "göttlichen Kunst"
in seinem Labor zur Folge habe. Ziel war die Erlösung von der
"normalen Existenz", Ausdruck dieses Ziels war der Stein
der Weisen. Daher war der alchemische Prozess im Prinzip stets eine
Einbahnstraße: Es durfte nur aufwärts gehen. Das galt
sowohl für die Wandlungen der Materie als auch für die
des Menschen. Als im 17. Jahrhundert einer der ersten großen
Chemiker, Robert Boyle, der immerhin noch an die Transmutation und
die mögliche Existenz eines Transmutationsmittels glaubte,
nicht nur Zinn in Gold verwandeln wollte, sondern auch Gold in Zinn,
hatte er die Grenze fort von der Alchemie überschritten. Für
ihn war das "Experimentum", von dem auch die Alchemisten
immer wieder redeten, eine "Befragung" der Natur und nicht
die "Erfahrung" einer Natur, die es nicht zu erklären
galt. Während es dem Chemiker um das Lösen wissenschaftlicher
Rätsel geht, ging es dem Alchemisten um die Auseinandersetzung
mit dem Geheimnis der Natur, dem er sich sowohl durch die Lektüre
kanonischer Texte als auch durch die Erfahrung seiner Labortätigkeit
zu nähern glaubte.
Der Chemiker nähert sich heute seinem Gegenstand mit dem Blick
des Analytikers, objektiviert ihn und benutzt eine formalisierte
Sprache zur Beschreibung. Der Alchemist hat ein subjektives Verhältnis
zur Natur, in die er ja sich selbst mit einbringt.
War also die Alchemie, die heute so gut wie ausgestorben ist und
deren Weltauffassung von der Denkweise der Chemie verdrängt
wurde, wegen ihrer scheinbaren Erfolglosigkeit ein eher kurioser
Umweg? Antworten können heute nur noch Wissenschaftshistoriker
geben.
Prof. Dr. Hans-Werner Schütt,
Institut für Philosophie, Wissenschaftstheorie,
Wissenschafts- und Technikgeschichte
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