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Nr. 12, Dezember 2003
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Das verschwundene halbe Wasserstoffatom

TU-Wissenschaftler entdeckte Sensationelles in molekularer Materie

Maarten Vos (Canberra), Tyno Abdul-Redah (Großbritannien, TU Berlin) und Aris C.-Dreismann (TU Berlin, v.l.) an dem Elektronenspektrometer in Canberra

Ein Wassermolekül besteht aus einem Sauerstoffatom und zwei Wasserstoffatomen, laut Chemieunterricht. Führt man an einer Wasserprobe jedoch Streuversuche mit genügend schnellen Neutronen oder Elektronen aus, woraufhin die experimentelle Betrachtungszeit extrem kurz wird, so findet man, vereinfach formuliert, pro H2O Molekül plötzlich 1,5 anstelle der erwarteten zwei Wasserstoffatome.

Dieses neue Phänomen hat Aris Chatzidimitriou-Dreismann, außerplanmäßiger Professor am Institut für Chemie der TU Berlin, theoretisch vorausgesagt und 1995 bei Streuexperimenten an der ISIS Spallations-Neutronenquelle am Rutherford Appleton Laboratory (RAL) in Großbritannien erstmalig beobachtet. Inzwischen wurden ähnlich überraschende Beobachtungen in verschiedenartigen Materialien gemacht, wie zum Beispiel in organischen Flüssigkeiten, Polymeren und im molekularen Wasserstoff. So erscheint das organische Molekül Benzol (C6H6) eher als C6H4.5.

Da die Neutronen jedoch hauptsächlich mit den Atomkernen wechselwirken, könnte man dem irreführenden Gedanken erliegen, dass diese Resultate nur einen "esoterischen" Effekt der Neutronenphysik darstellen. Doch auch diese Vermutung wurde durch eine deutsch-australische Forschergruppe um Professor Dreismann widerlegt. Diese hatte in Canberra ein festes Polymer mittels Elektronenstreuung untersucht und festgestellt, dass etwa 30 bis 40 Prozent der Wasserstoffatome für die schnellen Elektronen "unsichtbar" waren. Parallel dazu wurde dasselbe Polymer mittels Neutronenstreuung in ISIS (RAL) untersucht, mit dem Resultat, dass trotz veränderter Bedingungen dieselbe "anomale Abnahme" festgestellt wurde. Da Neutronen- beziehungsweise Elektronenstreuung auf verschiedenen fundamentalen Kräften der Natur basieren - den starken beziehungsweise elektromagnetischen - wurde so der allgemeinere physikalische Charakter des neuen Effektes demonstriert. Dieser wurde in den renommierten Zeitschriften "Physics Today" (9/2003) und "Scientific American" (10/2003) als besonders interessante neue Entdeckung präsentiert. Die physikalische Ursache dieser faszinierenden Beobachtungen ist zurzeit Zentrum intensiver Untersuchungen, die im Rahmen des EU-Netzwerkes "Quantum Complex Systems" (Koordination: Professor Gershon Kurizki, Weizmann Institute) stattfinden, an dem auch die TU Berlin partizipiert. Die Resultate deuten auf einen neuen physikalischen Quanteneffekt bei der Neutronen- und Elektronenstreuung hin, der bisher keine theoretische Erklärung im Rahmen des "Lehrbuchwissens" hat. Somit kann man erwarten, dass neue Impulse bei der Erforschung fundamentaler Eigenschaften der molekularen Materie auf der Attosekundenskala initiiert werden.

Sybille Nitsche

 

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