Das verschwundene halbe Wasserstoffatom
TU-Wissenschaftler entdeckte Sensationelles in molekularer Materie
|
Maarten Vos (Canberra), Tyno
Abdul-Redah (Großbritannien, TU Berlin) und Aris C.-Dreismann
(TU Berlin, v.l.) an dem Elektronenspektrometer in Canberra |
Ein Wassermolekül besteht aus einem Sauerstoffatom und zwei
Wasserstoffatomen, laut Chemieunterricht. Führt man an einer
Wasserprobe jedoch Streuversuche mit genügend schnellen Neutronen
oder Elektronen aus, woraufhin die experimentelle Betrachtungszeit
extrem kurz wird, so findet man, vereinfach formuliert, pro H2O
Molekül plötzlich 1,5 anstelle der erwarteten zwei Wasserstoffatome.
Dieses neue Phänomen hat Aris Chatzidimitriou-Dreismann, außerplanmäßiger
Professor am Institut für Chemie der TU Berlin, theoretisch
vorausgesagt und 1995 bei Streuexperimenten an der ISIS Spallations-Neutronenquelle
am Rutherford Appleton Laboratory (RAL) in Großbritannien
erstmalig beobachtet. Inzwischen wurden ähnlich überraschende
Beobachtungen in verschiedenartigen Materialien gemacht, wie zum
Beispiel in organischen Flüssigkeiten, Polymeren und im molekularen
Wasserstoff. So erscheint das organische Molekül Benzol (C6H6)
eher als C6H4.5.
Da die Neutronen jedoch hauptsächlich mit den Atomkernen wechselwirken,
könnte man dem irreführenden Gedanken erliegen, dass diese
Resultate nur einen "esoterischen" Effekt der Neutronenphysik
darstellen. Doch auch diese Vermutung wurde durch eine deutsch-australische
Forschergruppe um Professor Dreismann widerlegt. Diese hatte in
Canberra ein festes Polymer mittels Elektronenstreuung untersucht
und festgestellt, dass etwa 30 bis 40 Prozent der Wasserstoffatome
für die schnellen Elektronen "unsichtbar" waren.
Parallel dazu wurde dasselbe Polymer mittels Neutronenstreuung in
ISIS (RAL) untersucht, mit dem Resultat, dass trotz veränderter
Bedingungen dieselbe "anomale Abnahme" festgestellt wurde.
Da Neutronen- beziehungsweise Elektronenstreuung auf verschiedenen
fundamentalen Kräften der Natur basieren - den starken beziehungsweise
elektromagnetischen - wurde so der allgemeinere physikalische Charakter
des neuen Effektes demonstriert. Dieser wurde in den renommierten
Zeitschriften "Physics Today" (9/2003) und
"Scientific
American" (10/2003) als besonders interessante neue Entdeckung
präsentiert. Die physikalische Ursache dieser faszinierenden
Beobachtungen ist zurzeit Zentrum intensiver Untersuchungen, die
im Rahmen des EU-Netzwerkes "Quantum Complex Systems"
(Koordination: Professor Gershon Kurizki, Weizmann Institute) stattfinden,
an dem auch die TU Berlin partizipiert. Die Resultate deuten auf
einen neuen physikalischen Quanteneffekt bei der Neutronen- und
Elektronenstreuung hin, der bisher keine theoretische Erklärung
im Rahmen des "Lehrbuchwissens" hat. Somit kann man erwarten,
dass neue Impulse bei der Erforschung fundamentaler Eigenschaften
der molekularen Materie auf der Attosekundenskala initiiert werden.
Sybille Nitsche
|
|