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Unser digitalisiertes Leben
2015/2016
Foto: Ulrich Dahl
H
err Professor Uhl-
mann, der Begriff
Industrie 4.0 ist
zurzeit in aller Munde,
wenn es um den Stand-
ort Deutschland geht –
was genau bedeutet
Industrie 4.0 eigentlich?
Eckart Uhlmann:
Leider
werden die Begriffe „Digi-
talisierung“ und „Industrie
4.0“ häufig vermengt. Tat-
sächlich steht Industrie 4.0
für die intelligente Vernetzung von Produktentwicklung,
Produktion, Logistik und Kunden – unter Einsatz der Digitali-
sierung. Ziel von Industrie 4.0 ist es unter anderem, stark in-
dividualisierte Produkte zu den Kosten von Massenprodukten
herzustellen. Eine Weiterentwicklung, die mit herkömmlichen
Produktionstechniken nicht erreichbar ist.
Im Vergleich mit anderen Bundesländern existiert Indus-
trie 4.0 in Berlin bislang eher in der Theorie. Sie haben
jetzt im Auftrag des Berliner Senats eine Potenzialana-
lyse dazu durchgeführt. Wo liegen Berlins Stärken und
Schwächen auf dem Gebiet?
Zu den Stärken zählen eindeutig die am Standort Berlin viel-
fältig vorhandenen kleinen und mittelständischen Unterneh-
men in dem Informations-und-Kommunikations-Technik-Sek-
tor. Berlin hat eine starke Gründerszene und ist die Hauptstadt
der IT-Start-ups. Gleichzeitig
besitzt Berlin eine vielfäl-
tige und leistungsstarke
Forschungs- und Entwick-
lungskompetenz in den
Universitäten und außeruni-
versitären Einrichtungen.
Die Schwächen liegen in
der gleichen Richtung: Es
gibt wenig Großindustrie, aber viele – zum Teil exzellente –
Einzelplayer in der Berliner Forschung und Industrie, die eben
schlecht oder gar nicht vernetzt sind. Bei vielen kleinen und
mittelständischen Unternehmen sind die Bedeutung und
die Chancen von Industrie 4.0 noch nicht angekommen. Sie
haben Angst vor großen Investitionen und unübersehbaren
Risiken. Eine von der Politik initiierte, groß angelegte Road-
map zu dem Thema könnte da aufklären. Die Einführung und
Nutzung von Technologie im Sinne von Industrie 4.0 ist für
die Standortsicherung alternativlos. Erst recht für eine Stadt
mit mittelständisch geprägter Industrie. Industrie 4.0 schafft
die notwendige Vernetzung, die es kleineren Unternehmen
erst möglich macht, sich zum Beispiel zu Systemlieferanten
zusammenzuschließen und so als attraktive Partner mit den
großen Unternehmen zusammenzuarbeiten.
Was müsste geschehen, um Industrie 4.0 hier zu etablieren?
Unsere Handlungsempfehlung an den Senat gliedert sich
ganz grob in vier Bausteine: Erstens brauchen wir eine
gemeinsame Strategie für den Industriestandort Berlin. Dazu
müssten sich alle Beteiligten – Politik, Industrie und Wis-
senschaft – eng zusammenschließen. Zweitens müssen in
diesem Netzwerk in enger Abstimmung mit der hier ansäs-
sigen Industrie berlinspezifische Leuchtturmprojekte defi-
niert werden. Diese könnten zum Beispiel in den Bereichen
IT-Sicherheit, cloudbasierte Steuerung, Schnittstelle Mensch/
Technik oder der Entwicklung von neuen Geschäftsmodellen
liegen. Drittens brauchen wir verschiedene Kompetenz- und
Anwendungszentren. Modellfabriken, die zeigen, was wir
bereits können, und gleichzeitig einen Raum bieten, in dem
Industrie und Wissenschaft gemeinsam ausprobieren können,
welche konkreten Lösungen möglich und realisierbar sind.
Viertens bräuchte man eine Art kleine Informationsgeschäfts-
stelle, die die spezifische Berliner Industrie-4.0-Landschaft
sichtbar macht für die gesamte Welt.
Welche Rolle könnte in diesem Prozess die TU Berlin
spielen?
In der TU Berlin gibt es in so wesentlichen Bereichen wie
Maschinenbau, Informationstechnologie, Fertigungstechnik,
Automatisierungstechnik, Mikrosystemtechnik eine hervor-
ragende Expertise – aber auch hier fehlt die Vernetzung.
Was wir benötigen, ist eine verbindliche Heimat, eine eigen-
ständige Organisationseinheit innerhalb der Universität, die
sich Industrie 4.0 auf die Fahnen schreibt. Das funktioniert
aber nur, wenn alle Beteiligten auch ihre Grundfinanzierung
mit in diese Organisationseinheit einbringen, lediglich einen
Sonderforschungsbereich oder Ähnliches zu gründen reicht
meiner Meinung nach nicht aus. In der Konsequenz würden
dabei auch neue Studiengänge entstehen. Das könnte unter
anderem eine Art Wirtschaftsingenieur-Industrie-4.0-Studien-
gang sein.
» Industrie 4.0 ist alternativlos für den
Standort Berlin«
Eckart Uhlmann, Leiter des Instituts für Werkzeugmaschinen und Fabrikbetrieb,
fordert eine sichtbare Kooperation von Politik, Wissenschaft und Industrie
Interview Katharina Jung
» Kleine Unternehmen haben
die Bedeutung von Industrie
4.0 noch nicht erkannt.«